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sein letztes Buch Das Fenster im Zürcher Pegasus Verlag. 211 Exemplare werden verkauft, der Rest wird eingestampft. Auf der Reise zu Else Rüdrich, einer Vorkriegsliebe, die er heiraten will, trifft er in Zürich mit seinem späteren Verleger Werner Classen zusammen — er wird 1962 Haringers Lieder eines Lumpen veröffentlichen. Mit ihm und mit weiteren Freunden feiert Haringer nachträglich seinen 50. Geburtstag und die bevorstehende Hochzeit. Als er nach der Feier spätabends seine Dachkammer betritt, bricht er tot zusammen. Sein letzter Satz, den man auf einem in die Schreibmaschine gespannten Blatt findet, lautet: Und die weiße Landschaft lag unberührt vor mir wie der Weg ins Paradies. Anmerkungen zu Jakob Haringer 1 Jakob Haringer: Aber des Herzens verbrannte Mühle tröstet ein Vers. Ausgewählte Lyrik, Prosa und Briefe. Hg. von Hildemar Holl. Mit einem Nachwort von Wulf Kirsten. Salzburg, Wien: ResidenzVerlag 1988, S. 152. 2 Jürgen Serke: Die verbrannten Dichter. Berichte. Texte. Bilder einer Zeit. Weinheim, Basel: Beltz-Verlag 1977, S. 149. (Der Artikel über Jakob Haringer umfaßt die Seiten 144-159.) 3 Alfred Döblin: Einen Gruß für Jakob Haringer als Vorrede zu seinen Dichtungen. Beilage zu: Jakob Haringer: Die Dichtungen. Potsdam: Kiepenheuer Verlag 1925. Zitiert nach S. [6f.] der unpaginierten Beilage. Edith Bruck war in Wien Am 31. Mai 1999 las die bedeutende italienisch-jiidische Schriftstellerin Edith Bruck (vgl. MdZ Nr. 1/1999, S. 15-17) erstmals in Wien aus ihrem neuen Buch „Signora Auschwitz“. Eingeladen hatten die Theodor Kramer Gesellschaft und die Zeitschrift „[sic] Forum für feministische Gangarten“. Siglinde Bolbecher und Hilde Grammel hatten die Veranstaltung organisiert. Mit den in die Volkshochschule Ottakring gekommenen Interessierten führten Edith Bruck und Roland Walther, der ihren Besuch vorbereitet hatte und sie vorstellte, ein lebhaftes Gespräch in italienischer und deutscher Sprache. Denn obwohl Edith Brucks Muttersprache Ungarisch, ihre Literatursprache Italienisch ist, spricht Edith Bruck doch auch ein von ferne her klingendes, nicht perfektes, aber akzentfreies Deutsch. Bruck berichtete von einem Telefongespräch, das sie vier Tage vor dessen Freitod mit ihrem Freunde Primo Levi geführt hat, berichtete über seine Verzweiflung angesichts einer Gesellschaft, die Auschwitz (wenn nicht mit der Zunge, so doch mit dem Herzen) leugnet. Ganz Europa sei doch passiv am Nationalsozialismus beteiligt gewesen, obwohl man sich im nachhinein überall distanzierte. So sei in Ungarn nach 1945 nie von den faschistischen Pfeilkreuzlern geredet worden, und eine ganze Generation sei mit der Lüge eines am Nationalsozialismus unschuldigen Ungarn aufgewachsen. „Wir können“, sagte Bruck, „dieser Vergangenheit keinen Frieden und keine Vergebung gewähren.“ Haß auf die Täter empfindet sie jedoch nicht. Seit 40 Jahren geht sie als ‚Zeitzeugin‘ an italienische Schulen, um als Opfer in einem Meer von Unwissenheit zu bezeugen, was gewesen ist. Sie habe damit persönlich eine Aufgabe übernommen, die die Gesellschaft vernachlässige. Sie a 4 J. Haringer: Aber des Herzens verbrannte Mühle ..., wie Anm. 1, S.75. 5 Hildemar Holl und Brita Steinwendtner: Bruchstück eines Lebens. Auf den Spuren des Dichters Jakob Haringer. Ein Porträt des vergessenen Lyrikers. Manuskript zur Rundfunksendung am 1.11. 1985, ORF Hörfunk-Programm Öl (in der Reihe „Welt der Literatur“), S. 6. 6 J. Haringer: In die Dämmerung gesungen. Ausgewählte Gedichte. Hg. von Wulf Kirsten. Berlin, Weimar: Aufbau-Verlag 1982, S. 25. 7 Ebenda, S. 153f. 8 Ebenda, S. 45. 9 J. Haringer publizierte in Gregor Gogs „Der Kunde - Zeit- und Streitschrift der Vagabunden“ das Gedicht „Die Hure singt“. (3. Jg./ 1929, Nr. 7/8, S. 125). 10 Das Neue Tagebuch. Hg. von Leopold Schwarzschild. Paris— Amsterdam, 2. Jg. (1934), Heft 41, S. 983. Vgl. dazu auch: J. Haringer: Aber des Herzens verbrannte Miihle ..., wie Anm. 1, S. 192. 11 J. Haringer: In die Dämmerung gesungen ..., wie Anm. 6, S. 173. 12 Die durch das Juli-Abkommen zwischen Hitler-Deutschland und der österreichischen Schuschnigg-Regierung vermeintlich entspanntere Situation führte allerdings schon kurz nach Erscheinen des Bandes dazu, daß der Pustet Verlag die Vermischten Schriften Haringers im Verlagsprospekt 1936/37 nicht mehr ankündigte. 13 Zitiert nach: J. Haringer: In die Dämmerung gesungen ..., wie Anm. 6, S. 172f. 14 Deutscher Reichsanzeiger und Preußischer Staatsanzeiger, Nr. 171 vom 25. Juli 1936. 15 Zitiert nach: J. Haringer: In die Dämmerung gesungen ..., wie Anm. 6, S. 173f. 16 Maschinschriftlicher Brief Haringers an Josef Schulz, Salzburg, 0. D., Kopie im Besitz der „Stiftung Salzburger Literaturarchiv“. vermittelt den Schülern dadurch ein geschichtliches und auch soziales Bewußtsein, zu dem sie von keiner anderen Seite einen Zugang erhalten. Sie holt die Schülerinnen und Schüler, vielleicht nur für einen Augenblick, aus ihrer durch den Konsumismus übertünchten Isolation. In ihrem Buch „Signora Auschwitz“ erzählt Edith Bruck, was ihr diese Auftritte an Schulen gekostet haben, beschreibt die psychosomatischen Reaktionen, die das Vergegenwärtigen des Erinnerten auslöst. Autorin von über 15 Büchern, hat sie sich nie als irgendeine Frau betrachten können, schrieb immer im Zusammenhang mit Auschwitz, auch wenn der Inhalt des Buches, wie das noch unveröffentlichte, eben abgeschlossene, eine in der Gegenwart spielende Liebesgeschichte sei. Auschwitz sei ihr zur Falle, zum Gefängnis geworden, und dennoch zugleich zur Bereicherung. 1983 reiste sie erstmals nach Deutschland, um die Lager zu besuchen. 1999 kam sie erstmals nach Österreich, „wie Deutschland ein verbotenes Land“. „Wer überlebt, hat nicht das Recht, sich das Leben zu nehmen.“ Sie betonte, wie wichtig die winzigen Ermunterungen seien (,,... wenn sie dir im Lager/eine Kartoffel überließen/eine Rübe/einen zerlöcherten Handschuh“ — so in ihrem Gedicht „American Express‘), gerade für jemanden, der erfahren hat, welche Kleinigkeiten den Tod bedeuten konnten: „Man starb wegen eines Furunkels.“ Ein Todesmarsch nach Bergen-Belsen: Von tausend Frauen überlebten nur zwölf. — Allen, die in Wien mit ihr sprachen, teilte Edith Bruck etwas von ihrer Heiterkeit und Zuversicht mit. Vielleicht kann die Theodor Kramer Gesellschaft dazu beitragen, daß eine Auswahl der Gedichte Edith Brucks in deutscher Übersetzung erscheint. Konstantin Kaiser