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eine Welt der Freiheit und Gerechtigkeit, der Dichter steht nicht abseits! Nein, ihr Hingeschlachteten, ihr Brüder hinter den Stacheldrähten der Konzentrationslager [...] — glaubt nicht, daß der Dichter Euch nicht kennt, nicht um Euch weiß, daß Ihr vergessen seid! Er leidet mit Euch und kämpft mit Euch und er ruft Euch zu durch die Finsternis: „Es ist nichts umsonst gewesen! Die Stunde kommt!“ Derartige Hoffnungen in die ArbeiterInnenschaft sind bei ihm bis Anfang der 1940er Jahre zu finden. Auch in den anderen Aufsätzen werden Grafs Hoffnungen auf einen wachsenden Widerstand sichtbar. Er zählte auf die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem Regime und eine mögliche Rebellion, und spielt auch immer wieder auf die Münchner Räterepublik an.” In einem am 20. August 1933 unter dem Titel Wer schweigt, macht sich mitschuldig”* gehaltenen Vortrag über die politische Situation ih Deutschland, in dem er die Entwicklung vom 30.1. 33, dem Tag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, bis zum Reichstagsbrand am 27.2. 33 und seine Folgen aufzeigt, heißt es: Weshalb erhebt sich die Arbeiterschaft der ganzen Welt zum Widerstand gegen die infame Leipziger Justizkomödie? Dies alles bedeutet, daß ohne Unterschied der Parteien sich die Menschlichkeit gegen die Unmenschlichkeit wendet! Die Wahrheit gegen die Lüge! Dies alles soll sich vereinigen zu einem einzigen Schrei der Empörung, der nicht mehr überhört werden kann [...]!?° Seinen in Deutschland verbliebenen FreundInnen und KollegInnen gegenüber wurde er hingegen immer skeptischer und verdächtigte viele (oft zu Unrecht) des Überlaufens zu Hitler, so z. B. den Maler Georg Schrimpf. Dies führte so weit, daß er eine schwarze Liste zum Boykott der Bücher von Stefan Zweig, Alfred Döblin, Ödön von Horväth u. a. forderte, da diese sich vom Dritten Reich nicht rasch und deutlich genug distanziert hätten. Literatur als Broterwerb Die Situation in Wien war für Graf nicht nur aufgrund der genannten Lesungen in finanzieller Hinsicht wesentlich besser als die letzte Zeit in München, denn seine Literatur wurde hier immer mehr zum Lebenserwerb. Die Wiener Zeit ist die, in der er am meisten Geschichten in Zeitungen veröffentlichte, von denen die Hälfte allerdings neuerliche Abdrucke bereits veröffentlichter Erzählungen mit unwesentlichen Aktualisierungen waren. Sie bewegten sich zu großen Teilen im Rahmen des bajuwarischen Graf-Klischees vom Typ Bayrisches Dekameron. Dies trifft v.a. auf die Veröffentlichungen im Witzblatt Der Götz von Berlichingen zu, in dem Graf eine eigene Kolumne erhielt und über ein halbes Jahr lang jede Woche eine seiner Geschichten veröffentlicht wurde. Auch im Wiener Tag, dem Kleinen Blatt, dem Tagblatt u. a. Zeitungen wurden seine Geschichten, teils aber auch politische Artikel (Arbeiter-Zeitung, Neue Deutsche Blätter) veröffentlicht. Bei den Erzählungen bildete die Naziherrschaft meist nur den Hintergrund der Geschichte, was man als Rücksichtnahme auf die Dollfußsche Zensurpolitik interpretieren kann. Auch eine starke schwarz-weiß Zeichnung fällt auf, mitunter werden die GenossInnen zu guten Menschen stilisiert. Nur wenige Geschichten beziehen politisch Stellung, indem sie die tägliche nationalsozialistische Praxis thematisieren, so z. B. die Erzählung Der Ball in Grametsdorf, an dessen Ende einige Bauern nach Dachau abtransportiert werden.?° Solche Erzählungen Oskar Maria Graf, Zeichnung von Bil Spira. Original im Besitz der Oskar Maria Graf-Gesellschaft, München sind nicht auf eine so direkte Art und Weise politisch wie seine Pamphlete, sondern insofern, daß sich die geschilderten bayerischen Bauern gegen das Eindringen des Nationalsozialismus in das alltägliche Leben wehren, weil er ihre Gewohnheiten in Frage stellt. Dahinter verbergen sich aber weniger politisch motivierten Handlungen, sondern eher die allgemeine Fremdenfeindlichkeit (gegen die „regierenden Preußen“ und den „Österreicher Hitler“) und Abschottung gegen alles Neue oder Städtische. Die scheinbar heile Welt auf dem Land wird enttarnt, die bäuerliche Heuchelei wird sichtbar. Graf bemängelte immer wieder die vielen Auftragsarbeiten, die ihn in künstlerisch nicht wirklich interessieren und ihm kaum Zeit zur Arbeit an seinen Romanen Der Abgrund und Anton Sittinger ließen.?’ In einem Brief?® an seinen Bruder Maurus schrieb er: Eigentlich gehts ganz gut um bei uns, besser als zuletzt in M. Nur eins ist bitter, man muß jeden Tag für irgendeine Zeitung etwas fabrizieren und hat keine Ruhe mehr, sich hinzusetzen und am großen Zeug zu arbeiten. In Die Frau konnte Graf allerdings eine Vorarbeit zum späteren Roman Das Leben meiner Mutter unter dem Titel Das sinnvollste Beispiel veröffentlichen. Dies scheint eine Ausnahme geblieben zu sein. Die Erwerbsprosa zeigt aber nicht nur die Anpassung Grafs an den Markt aus existentiellen Gründen, sondern auch seine althergebrachte Selbststilisierung als krachlederner, den Bierkrug stemmender Alpenhalodri. Hans-Albert Walter”? stellt mit dem Hinweis auf Grafs Autobiographie zu Recht fest, daß drei Faktoren bei der Beurteilung berücksichtigt werden müssen: Einerseits war Graf zeitlebens seiner oberbayerischen Heimat sprachlich, landschaftlich und mentalitätsmäßig stark verbunden. Andererseits hat er sich v.a. bis in die 1920er Jahre, als er in der Münchner Boh&meszene als Literat sozusagen debutierte, bewußt stilisiert, um auf sich aufmerksam zu machen, und so Zugang zum Literaturbetrieb zu finden, man denke nur 47