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union zu emigrieren, scheiterte am Starrsinn eines österreichischen Konsularbeamten. Vielleicht ist dies der Moment, der Frage nachzugehen, was einen Menschen umtreibt, wieso er sich für und nicht gegen seine Klasse entscheidet: Aus Otto hätte ja auch ein illegaler Nazi werden können. Oder, nach den Februarkämpfen 1934, einer, der sich enttäuscht von jeder Politik abwendet. Oder einer, der in Not und Verzweiflung Hand an sich oder Hand an andere legt. Oder auch möglich — ein junger Mann, der unter allen Umständen nach oben will. Ein Zyniker, ein Trinker, ein Millionär. Eine Mischung von all dem, oder eben ein ganz anderer: ein Schwacher, der zu den Schwachen hält. Wer von Otto spricht, kommt nicht umhin, Trude zu ehren. Otto hatte sie 1929 kennengelernt, als er in der Siedlung am Rosenhügel, die wegen der politischen Gesinnung ihrer Erbauer „Klein-Moskau“ genannt wurde, zur Untermiete wohnte. Trude, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, war damals acht Jahre alt. Otto war neunzehn, doch widerstrebte es ihr, sagt sie, zu ihm Onkel zu sagen. Dafür sei er zu jung gewesen. Sie sah ihn immer wieder, wenn er, zwischen Haft und Anhaltelager, in die Siedlung zurückkehrte, sich als Tagelöhner verdingte, für einen Bäcker, später für einen Schokoladenfabrikanten Waren ausfuhr, auf seinem Fahrrad, das ihm eines Tages gestohlen wurde. Dann, eines Tages, war er weg. Spanien und die Folgen. 1945 war Trude eine junge Frau, die jeden Morgen mit der Stadtbahn zu ihrem Arbeitsplatz im Fernsprechgebührenamt fuhr. Wieder wohnte Otto in derselben Straße. Auch er fuhr jeden Morgen in die Arbeit, in die Globus-Druckerei. Eines Tages erzählte er ihr, seufzend, er würde eine Wohnung kriegen, aber dazu müßte er verheiratet sein. (Stadtbahn, zur Stoßzeit, die Fahrgäste dicht gedrängt.) Trude, unwirsch oder belustigt: Ich kann dir doch nicht eine Frau suchen! Und Otto: Nein, suchen nicht, aber sein. Geheiratet haben die beiden am 5. Jänner 1946, noch im selben Jahr kam Grete zur Welt. Die Große Liebe — oder das, was für die Große Liebe gehalten wird — war es nicht gleich, sagt Trude. Aber dann kamen 53 gute Ehejahre. Man sollte sich angewöhnen, Menschen um ihrer selbst willen wahrzunehmen, ihre guten oder schlechten Eigenschaften nicht mit ihrer Lebenszeit und dem Ort, an dem sie leben, zu begründen. Das leuchtet mir auch ein. Trotzdem sind mir Otto und Trude immer als Versprechen erschienen, die beiden alten als zwei Neue Menschen, Menschen des 21.Jahrhunderts, wie Che Guevara sie herbeigewünscht hat: Mutig, aber nicht egoistisch; liebevoll, aber nicht sentimental; umsichtig, aber nicht aufdringlich; freigebig, aber nicht verschwenderisch. Solange Otto noch außer Haus gehen konnte, waren sie zur Stelle, wenn politische oder kulturelle Initiativen ihrer Gegenwart bedurften. Für mich haben sie alle Errungenschaften des Roten Wien verkörpert, abzüglich des militanten Gehabes, das Otto immer mißfallen hat. Er habe, sagt Trude, von Dachau wenig erzählt. (Sie alle, die Überlebenden der Lager, hätten zuwenig davon gesprochen.) Sie weiß nur, und Grete bestätigt es, wenn man ihn habe wecken müssen, sei er kerzengerade, zu Tode erschrocken, in die Höhe geschnellt: „Das war seit damals in ihm drin.“ Im Außenlager Birksau, bei Oberstdorf, habe er monatelang mit 40 Kilo am Buckel zu einer Hütte der SS aufsteigen, dann auf Skiern abfahren müssen. „Deshalb wollte er auch nie wieder skifahren.“ Unter den unzähligen Leserbriefen, die Otto hinterlassen hat, finden sich auch zwei autobiografische Texte zu Dachau, „Eine unerwünschte Weihnachtsgeschichte“ und „Worüber Dachauer ‚Schutzhäftlinge‘ lachten“. Das Lachen der Männer in Dachau galt Ottos Erinnerungen an den Alltag im Anhaltelager Wöllersdorf: „Große Heiterkeit erregte der Bericht über einen fünftägigen Hungerstreik, ehe ein Teil unserer Forderungen bewilligt 58 wurde. ‚Hungerstreik!‘ lachten sie. ‚Das wäre für die SS ein gefundenes Fressen. Ihr wollt nicht essen? Könnt ihr haben. Sie ließen uns glatt verhungern!‘ Besonders erheiternd fanden die Schutzhäftlinge von Block 4, daß eine zusätzliche Forderung lautete, daß wir nicht jeden Freitag mittags Reisauflauf mit Himbeersaft bekommen sollten. Jetzt fand sogar ich es sonderbar, daß mir diese Forderung nicht schon längst komisch vorgekommen war.“ In der „unerwünschten Weihnachtsgeschichte“ stecken zwei Erlebnisse, die Otto gelegentlich erwähnt hat. Die eine, das vierzehn- oder sechzehnstündige Stehen am Appellplatz, dann die Vorführung eines Geflüchteten, der gefaßt worden war und eine Tafel um den Hals trug: „Ich bin schon wieder da!“ Die zweite, mitansehen zu müssen, wie dieser Mann mit entblößtem Gesäß auf den Bock geschnallt und mit Ochsenziemern geschlagen wurde. „Im Takt der Lagermusik sprangen die beiden SSler abwechselnd in die Höhe, um den Schlägen größere Wucht zu verleihen.“ Eine Empfindung, so naheliegend sie gewesen wäre, ist Otto stets fremd geblieben: Rache. Er hat sie bekämpft, verabscheut, zurückgewiesen. Eine Erfahrung aus Spanien, die ihn am meisten beschäftigt hat, handelt von einem Landsmann, der während der Ebro-Offensive einen gefangengenommenen Francosoldaten zum Kommandostab bringen soll, aber nach wenigen Minuten zurück ist. „Wieso bist du denn schon wieder da?“ fragt Otto. „Was hast du mit dem Gefangenen gemacht?“ - „Da vorne liegt er.“ Otto, entsetzt: „Warum hast du denn einen Wehrlosen erschossen? Der hat dir doch nichts getan!“ Der andere rechtfertigt seine Tat, indem er Otto von den grausamen Verstümmelungen erzählt, die Francos Spießgesellen an seinen Kameraden vornahmen. Doch dieses Argument läßt Otto nicht gelten. Rache nehmen heißt für ihn, auf die Seite der Feinde überlaufen. Als ich Trude, Grete und Gretes Tochter Jenny nach Ottos Eigenschaften und Eigenheiten befragte, fiel immer wieder das Wort Toleranz. Stur, aber tolerant. Diszipliniert, aber tolerant. Politisch engagiert, aber tolerant. Das heißt nicht, daß Otto seine Überzeugungen nicht entschieden verfochten hätte; Jenny zeigte mir einen Brief, den er ihr vor sechs oder sieben Jahren geschrieben hat. Damals hatte sie sich, wie so viele konfessionslose Schulkinder, als Außenseiterin gefühlt, die einzige -— oder fast die einzige -, die nicht am Religionsunterricht teilnahm und von gemeinschaftlichen Ereignissen wie Erstkommunion und Firmung ausgeschlossen war. „Liebe Jenny!“ schrieb Otto. „Als du neulich ohne jeden Anlaß sagtest, du wollest dich taufen lassen, waren wir verblüfft. Freilich war zu erwarten, daß du dich mit Fragen der Religion auseinandersetzen mußt, aber wir wollten nicht verfahren wie die Kirche, die Neugeborene tauft, lange bevor ihr Erkenntnis- und Entscheidungsvermögen reif genug sind, sich auch wehren zu können ...“ Auf vier Seiten entwarf Otto eine profunde und vergnüglich zu lesende Religionskritik, als Entscheidungshilfe für seine Enkelin gedacht, aber nicht als Mittel der Überredung: „Die Entscheidung kann dir niemand abnehmen. Es bleibt dir überlassen, ob du dich mit dem sicherlich noch unzulänglichen Wissen von den sogenannten Letzten Dingen zufriedengibst, oder ob du die Lösung all dieser Fragen in geheimnisvollen Mysterien, die nicht bewiesen zu werden brauchen, aus Ungeduld oder Bequemlichkeit vorziehst.“ Liebe Trude, liebe Grete, liebe Jenny: uns verbindet das Privileg, die Zuneigung eines Menschen empfangen zu haben, der sich — bei aller Bescheidenheit — nie damit beschieden hat, die herrschenden Verhältnisse zu akzeptieren. Sein hohes Alter ist uns ebensowenig ein Trost wie die Tatsache, daß er nun von seinem Leiden erlöst ist. Wir sind einsamer geworden ohne ihn. Aber der Freundschaft zwischen uns, die er gestiftet hat, kann auch der Tod nichts anhaben.