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Gennadi E. Kagan Die negativen Anführungszeichen Wir sind gewohnt, Zitate, Titel von Büchern oder Filmen etc. in Anführungszeichen zu setzen, um sie innerhalb eines Textes zu kennzeichnen. Ich möchte diese Anführungszeichen die wertfreien nennen, um sie für den Leser meiner Betrachtung von denen, um die es mir hier geht, den negativen und pejorativen, unterscheidbar zu machen. Wenn ich also im folgenden von Anführungszeichen rede, wird es sich stets um die letzteren handeln. Als ich im Sommer vorigen Jahres mit der Straßenbahnlinie 38 nach Grinzing fuhr, um dort auf dem Friedhof ein paar Blumen auf das Grab Thomas Bernhards zu legen, war mir noch nicht bewußt, daß es eine ganz spezielle Verwandtschaft deutscher und russischer Spracherfahrung gibt. Es war ein Sonntag, und es war mir deshalb unmöglich, auf dem nahezu menschenleeren Friedhof eine Auskunft zu bekommen. Vor einem Grab erblickte ich eine alte Dame. Ich fragte sie, ob sie mir die Grabstelle Thomas Bernhards bezeichnen könne. Der Zorn packte sie, als sie Bernhards Namen hörte. Von diesem Nestbeschmutzer, von so einem, der das eigene Haus besudelt hat, nein, von dem wolle sie nichts wissen, nicht einmal wo er in der von ihm besudelten Heimaterde seine letzte Ruhestätte gefunden habe. Ich wagte es, die Dame noch zu fragen, ob sie jemals etwas von Bernhard gelesen habe. Die Antwort war eine empörte Verneinung. Mir kam der Begriff Anführungszeichensyndrom in den Sinn. Wie sehr erinnerte mich das doch an verblüffend ähnliche Antworten von Zeit- und Altersgenossen dieser Wiener Dame in meinem Land, der untergegangenen Sowjetunion, wenn man sie nach Boris Pasternak, Anna Achmatowa oder Alexander Solshenizyn gefragt hatte. Untergegangene Sowjetunion? Ich bin nicht sicher, nein, ich bin sogar davon überzeugt, daß sie in vielerlei Hinsicht noch immer weiterexistiert, vor allem in der Sprache, der sowjetischen Sprache, die sich noch über unermeßliche Räume erstreckt. Will man die Ursachen, die Methoden und Wirkungen der Sowjetisierung oder präziser der Stalinisierung verstehen, muß man — und da spricht nicht nur der Linguist aus mir — mit dem Erkennen und der Analyse der Sprachwunden beginnen; so ähnlich etwa, wie nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland die „Gruppe 47“ begann, in der Stunde Null der deutschen Sprache, die während der zwölfjährigen faschistischen Diktatur zur „LIT“ verkommen war. — „LTI“, das weltbekannte Buch Viktor Klemperers über die Sprache des Dritten Reiches, das bereits 1946 erschien, ist meines Wissens bis heute weder in Österreich (ist hier die gemeinsame deutsche Sprache der Stein des AnstoBes?) besonders beachtet, noch in Rußland aufgelegt worden, wo die noch immer weiterwirkende und das Denken im neuen Rußland beeinflussende sowjetische Sprache unüberhörbar ist. So wie in Deutschland die nazistische Propaganda der Masse in Fleisch und Blut übergegangen war, drang in der Sowjetunion der Sowjetismus über stereotyp und millionenfach wiederholte Worte, Redewendungen und Phrasen in die Köpfe der Menschen ein, wurde mechanisch und unbewußt aufgenommen. Es macht auch im heutigen Rußland wenig Mühe, rein nazistisches Vokabular gegen rein sowjetisches auszutauschen, man muß wenig dazulernen... Der russische Vormund kannte in der Sowjetunion eine bezeichnende Redewendung, die als Sprachmuster gelten kann: Die Sprache bringt einen bis nach Kiew und... ins Gulag. Dieses Muster existiert auch heute noch weiter, weil in der Sprache über Zeiträume hinweg sowohl die vergangenen Ereignisse als auch deren Auswirkungen gespeichert sind. Aber so einfach, wie es auf den ersten Blick scheinen mag, sind die Verbindungen zwischen dem Wort und dem Gedanken durchaus nicht immer. Das am häufigsten verwendete Interpunktionszeichen war in Nazi-Deutschland nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, das Ausrufezeichen, denn Ideologien und Propaganda basieren ohnehin auf dem Pathos, sind derart von hysterischem Geschrei durchdrungen, daß jedes erhabene Wort aufhört, sich vom gewöhnlichen zu unterscheiden — man bedurfte des Ausrufezeichens nicht mehr. Auch das Fragezeichen kam nicht in Frage, drückt es doch Zweifel oder gar Kritik aus. Das am häufigsten gebrauchte Zeichen war dort wie auch in der Sowjetunion das Anführungszeichen, das negative, pejorative Anführungszeichen wohlgemerkt. Mit der Zeit wurde kaum ein Wort mehr wertfrei ausgesprochen. Fast jedes Wort wurde gewissermaßen unterminiert, sollte unverhüllt die Absicht ausdrücken, jemanden zu verletzen, zu kränken und alles, dessen sich die normalen Menschen gewöhnlich bedienten, zu diskriminieren. Man brauchte dem Wort nicht einmal Schimpfepitheta beizugeben (obwohl auch das oft genug geschah), es genügte, seine Verachtung dem Gesprächsgegenstand gegenüber sozusagen graphisch auszudrücken. Und in der mündlichen Rede, etwa eines Rundfunksprechers, Propagandisten oder Referenten, wurde dieses negative Anführungszeichen mittels einer von entsprechender Gestik begleiteten giftig-ironischen Intonation deutlich gemacht. Das Resultat dieser Praktik war, daß den Lesern oder Hörern eine bestimmte Einstellung eingeimpft wurde. Wie nun wirkte sich das in der Realität aus? Was vielen Menschen in der Sowjetunion damals auf diese Weise geschah, kam einer Art gesellschaftlichem Mord gleich, d. h. man war für die Gesellschaft tot. So wurden von der Sowjetmacht — innerhalb der Intelligenzija durch die Megäre Sofia Wlasjewna personifiziert — meine Lehrerin und Doktormutter, die Professorin, Dichterin und erste russische Rilke-Übersetzerin Tamara Silmann, oder manch anderer bedeutende Sprach- und Literturwissenschaftler wie z. B. der Professor Boris Iljisch im Hörsaal der Ersten Leningrader Pädagogischen Hochschule für Fremdsprachen während der hysterischen Anti-Kosmopoliten-Kampagne im Jahre 1949 zwar nicht psychisch, aber doch in bitterstem übertragenen Sinne exekutiert. Von den „Professoren“ Silman und Iljisch redete der geifernde Parteisekretär — das hier gesprochene Anführungszeichen sollte allen Anwesenden klarmachen, daß es sich bei den beiden verdienstvollen Gelehrten lediglich um sogenannte, um Quasioder Pseudoprofessoren, um Usurpatoren handelte. Den beiden Professoren waren mit diesen Anführungszeichen seelische Wunden zugefügt, von denen sie sich nicht mehr erholten. Auf diese gleiche Weise verfuhr Sofia Wlasjewna später auch mit dem hervorragenden Leningrader Linguisten und Kulturwissenschaftler Juri Lotman. Mit diskriminierenden Anführungszeichen belegten 1973 die Parteibonzen des Leningrader 59