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lung auf dem Wiener Zentralfriedhof zu spüren, und in der darauffolgenden Nacht hatte ich einen Alptraum. Mir war, als würden hier auf dem Wiener Zentralfriedhof die russischen Bagger vom „Literaturny Mostki“-Friedhof in Petersburg, wo alle Literaten und Literaturkritiker exakt nach der sowjetischen Hierarchie eingeordnet ruhen, Nacht für Nacht hin und her rollen und mit der gleichen Rabulistik und Tüftelei die Grabsteine wie Visitenkarten mischen, um Nomenklaturareihen zu schaffen. Die Anführungszeichen-Manie kennt keine Grenzen. Eine Abart dieser speziellen Manie oder Sprachverwilderung war die willkürliche Abänderung topographischer Namen, typisch für das Sowjetsystem, aber auch schon im alten Rußland praktiziert. Bereits unter Katharina II. verwendete man den Entzug althergebrachter geographischer Namen bzw. die zwangsweise Umbenennung als eine Art kollektiver Strafe, als Demonstration der eigenen Macht oder als ein probates Verfahren, Unliebsames und Störendes in den Köpfen der Menschen zu diskriminieren und auszulöschen, sich einer unbequemen Wahrheit zu entledigen. So hatte Katharina nach dem Pugatschow-Aufstand den rebellischen Fluß Jaik in Ural umbenannt, Napoleon nach der Besetzung Moskaus begonnen, Straßen und Plätze die Namen seiner Brigaden und Regimenter zu geben. Ein in dieser Beziehung bezeichnender Satz stammt von dem Nazi-Ideologen Alfred Rosenberg: „Es genügt, bei einem Volk die Denkmäler der Kultur zu vernichten, damit es in zwei Generationen aufhört, als Volk zu existieren“. Es sei dahingestellt, ob die Sowjetführer unter Stalin diesen Satz kannten oder nicht, aber in den Jahren des Anführungszeichen-Stils wurden in der Sowjetunion die Orts- und Städtenamen einer totalen Überarbeitung unterzogen, erlangten die ideologischen Bürokraten und Verfechter des Anführungszeichen-Stils eine unbegrenzte Macht über die Kultur. Allenthalben tauchte der amtliche Imperativ „verewigen“ auf. Tausende von Ortsnamen gingen scheinbar für immer unter und wurden durch andere, genehmere, sogenannte zeitgemäßere ersetzt. Dieser Prozeß zog sich in die 1980er Jahre hin, als auf den Landkarten plötzlich Städtenamen wie Breshnew, Tschernenko, Andropow usw. auftauchten und ebenso rasch wieder verschwanden. Das Ausmaß dieser Umbenennung läßt sich schon daraus ersehen, daß allein in Moskau von den 4.000 Plätzen, Straßen und Gassen 1.500 ihre Namen verloren. Ähnlich wurde auch in den Metropolen und Hauptstädten der anderen Sowjetrepubliken verfahren. Mit erstaunlicher Leichtigkeit trennte man sich von den Namen großer und kleiner Städte, die den Menschen von Kindheit auf vertraut gewesen waren. Im Nichts versanken St. Petersburg bzw. Petrograd, Zarizyn, Nishni Nowgorod, Wjatka, Twer, Perm, Samara, Wladikawkas, Jekaterinoslaw und viele andere. Zahllose neue Siedlungen wechselten ihre gewöhnlich von Parteifunktionären entlehnten Namen mitunter so rasch, daß sie sich nicht einmal einprägen konnten. Die Stadt Stawropol — die Heimatstadt Gorbatschows — hieß von 1935-43 Woroschilowsk; der Leningrader Vorort Gatschina erfuhr eine ganze Kette von Namenstransformationen: Gatschina — Troizk — Krasnoarmejsk — Gatschina. Diese Massenumbenennungen zerstörten eine ganze historisch gewachsene Toponomastik: Allein schon ein grober Überblick aufgrund alphabetischer postalischer Listen, die kleine Dörfer, Siedlungen usw., die keine eigene Poststelle haben, nicht einmal erfassen, ergibt ein makaber-umfassendes Bild von der totalen Ideologisierung und Übertünchung der sowjetischen Wirklichkeit. 150 Städte, Siedlungen und Eisenbahnstationen erhielten den Namen Kirow. Über 40 Mal tauchte der Name Kuibyschew auf; 33 Ortsnamen bezogen sich auf den Gründer der berüchtigten Tscheka Dzierzynski und rund 100 auf Kalinin. Schriftstellernamen hingegen fand man auf der Karte der UdSSR nur selten, ausgenommen den in verschiedenen Gebieten 27 mal auftauchenden Namen des Stammvaters des sozialistischen Realismus, Maxim Gorki, dem Stalin einmal nahelegte, nach dem Roman ,,Die Mutter“ nun auch einen Roman iiber den sozialistischen Vater zu schreiben, wozu sich der große Erzähler allerdings nie herbeiließ. An der Spitze der sowjetischen Namenspyramide standen selbstverständlich die Namen Lenin und Stalin. Schier endlos war die Reihe der Städte, Siedlungen, Eisenbahnstationen, Kolchosen und Sowchosen, Theater, Universitäten und sogar Entbindungsstationen, die einen dieser beiden Namen trugen. Allein die Namen von 337 kleineren und größeren Städten gingen auf den Namen Lenin zurück. Eine beliebte Form der Sowjetunion in der Toponomastik stellte die Verwendung des Adjektivs „Rot“ dar. Unsinnig und ungereimt klangen die endlosen Bezeichnungen wie Rote Werkbank, Roter Schleppdampfer, Roter Mähdrescher, nicht zu reden von der;Roten Aksaj im Rostower Gebiet, denn Aksaj bedeutet Weiße Schlucht, der Ort hieß nun also Rote Weiße Schlucht. Und Hunderte von Siedlungen wurden mit Begriffen wie Sowjet, Komsomol, Komintern, Kommunarde, Kommunismus belegt; dazu kamen ebenso viele andere, denen man stereotyp euphemistische Adjektiva wie hell, glücklich, reich, freudig, sonnig usw. beigab. Ein besonderes Beispiel für die radikale Sowjetisierung war und ist die Halbinsel Krim. Nach der Deportation der KrimTataren durch Stalin sucht man heute vergeblich nach den alten tatarischen topographischen Namen. Der große russische Schriftsteller Paustowski registrierte das mit Bitterkeit: „Man hat auf Krim, ohne es vorher bekanntzumachen ... und ohne Zustimmung der Bevölkerung, in aller Eile fast alle Städte, Siedlungen und Dörfer unbenannt ... In den neuen Benennungen fehlt jeglicher Hinweis auf die Natur oder die Geschichte der Krim. Die neueste Karte der Krim ist buntscheckig, sie schillert geradezu von groben, grobschlächtigen, unpersönlichen, charakterlosen und oft auch unsinnigen Benennungen.“ Nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte die Sowjetisierung in der Toponomastik auch die nördlichen Gebiete des Landes. Im Leningrader Gebiet verschwand der Name Schlüsselburg, einst eine Festung, deren Name präzise ihre historische Funktion widerspiegelte: der Schlüssel auf „dem Weg von den Warägern zu den Griechen“; sie erhielt den Namen Petrokrepost. Und die Namen Peterhof und Oranienbaum bezeichneten nur noch Eisenbahnstationen. Aus der Stadt Königsberg im ehemaligen deutschen Ostpreußen, die ihren Namen seit 1225 trug, wurde Kaliningrad. Der große deutsche Philosoph Immanuel Kant, der dort wirkte und 1804 starb und dessen Grab sich noch heute dort befindet, hatte mit dem ersten sowjetischen Staatspräsidenten Kalinin, der kaum etwas von ihm oder dieser Stadt wußte, nicht konkurrieren können. Spurlos verschwunden sind auch die Namen der deutschen Siedlungen in Powolschje, auf der Krim, in den Steppen des ehemaligen Taurischen Gouvernements, wo seit Katharina II. deutsche Siedler Wurzeln geschlagen und eine mustergültige Landwirtschaft entwickelt hatten. Auch das totale Ersetzen fremdländischer geographischer Namen durch sowjetrussische führte zur Verkümmerung der toponomastischen Palette der UdSSR. Und so ist bei allen Untersuchungen über Sowjetisierung auch die in den vergangenen achtzig Jahren künstlich entstandene geographische Nomenklatura ein Aspekt, den man nicht übersehen darf. Nicht nur beim Ballett und bei der Eroberung des Kosmos nahm die Sowjetunion den ersten Platz ein, sondern 61