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ker Daniela Ellmauer und Albert Lichtblau — treffend für alle, die den Titelhelden kennen — die Sammlung der „Geschichten“ im PicusVerlag. Bemüht unverfälscht wird in Leos eigenen Worten das jüdische Wiener Bürgertum der Zwanziger und Dreißiger lebendig, eine unbeschwerte und liebevolle Kindheit mit Bruder und Schwester in der Taborstraße, die Jugend mit den typischen gesellschaftlichen Aktivitäten von Tees bis Schitouren. Offen und liebevoll spricht Leo über Prägendes: von dem selbstverständlichen, aber nicht allzu strikten Umgang mit der Religion, den Konflikten mancher „schwarzer Schafe“ in der orthodoxen Verwandtschaft der Mutter, der natürlichen Liebe zur Kunst und Kultur, ausgehend vom Vater, dem angesehenen Wiener Antiquitätenhändler, und der engen Beziehung der Geschwister, die im Exil ihre Fortsetzung findet. Humorvoll, amüsant und furchtbar traurig, da der überwiegende Großteil Opfer des nationalsozialistischen Massenmordes wurde, sind die Geschichten über die riesige, bunte Schar an Onkel, Tanten, Cousins... Ein Verständnis von Familie, das Leos Tochter Nina nie kennenlernen sollte. Ein wesentlicher Teil der Erinnerungen kreist um die Kunstgewerbeschule, wo Leo, nach Diskussionen mit den Eltern, den Künstlertraum vorerst in den Hintergrund stellt und Architektur studiert. Die Freunde jedoch kommen meist aus der Malereiklasse und die einzelnen Personen und Liebesgeschichten sind so gegenwärtig wie die bittersüße Unbeschwertheit dieser Zeit und auch der eigenen Liebesgeschichte mit Ita, einer jungen, rothaarigen Polin, die nach langer Trennung in eine schwierige Ehe in New York mündet — „Ita war ein Mensch, der furchtbar verwundet war, seelisch“, meint Leo über seine 1994 verstorbene Frau. In New York spricht Leo zu seinen jungen Freunden über vieles — von der ersten gescheiterten Flucht bis zur mulmigen Ankunft in den USA. Die Geschehnisse der Kristallnacht allerdings, die seelischen und physischen Mißhandlungen, die er, sein Vater und sein Bruder Fritz erfahren, teilt er nur mit wenigen. Die traumatischen Erlebnisse finden sich in dem Buch und enthüllen gleichzeitig einen der Grundzüge Glückseligs: selbst in den schlimmsten Situationen etwas Positives in den Menschen zu entdecken, mit dem Verzeihen schon zu beginnen, wenn das Furchtbare selbst erst geschieht. Parallel dazu sind auch die Erlebnisse als freiwilliger amerikanischer Soldat im Zweiten Weltkrieg lesbar: Nochmals die Überwindung von Haß und ein großes Verständnis und Verstehenwollen, das in letzter Konsequenz (im letzten Jahr) zum Treffen mit einem deutschen Soldaten führte, der sich in einer Leo überantworteten Gefangenentruppe befand. Im Kreis seiner Freunde, dieser unglaublich vitalen und politisch wie kulturell „up to date(n)“ Gruppe von über Achtzigjährigen aus Deutschland und Österreich, wurde er 72 schließlich zum Titelhelden einer in Deutschland bereits ausgezeichneten Filmdokumentation unter dem Titel „GlückseligEin Stammtisch in New York“. Diese bildet auch den Abschluß der Wiener Aktivitäten. Aus diesem Grund plant er auch schon den nächsten Besuch in Österreich, der dann nur „meinen Freunden gewidmet sein soll.“ Katharina Hofmann-Sewera Leo Glückselig: Gottlob kein Held und Heiliger! Ein Wiener „Jew-boy“ in New York. Hg. und mit einem Nachwort von Daniela Ellmauer und Albert Lichtblau. Wien: Picus Verlag 1999. 317 S., 63 Abbildungen. OS 291,-/DM 39,80/SFr 38,80 („Spuren in der Zeit“. Hg. im Auftrag des Instituts für Geschichte der Juden in Österreich von Eleonore Lappin und A. Lichtblau). Die vom Wiener Kulturstadtrat und früheren Leiter des österreichischen Kulturinstituts in New York Peter Marboe, eröffnete Ausstellung „Leo Glückselig — Skizzen eines Jahrhunderts“ wurde im Mai/Juni 1999 im ProJektraum des WUK, Wien, gezeigt. Berichtigung In MdZ Nr.1/1999, S. 47, sollen in der Rezension der Bücher von Klaus Pringsheim und Erika Mann die Namen Richard A. Bermann und Steven Schwarzschild durch Gottfried Bermann- Fischer und Leopold Schwarschild ersetzt werden. 23. Mai 1949 — 1999 50 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Riickblick In diesem Jahr der Einfiihrung des Euro in elf Staaten Europas und damit des Anfangs eines europäischen wirtschaftlichen Zusammenschlusses sollte man nicht den Namen von Coudenhove-Kalergi vergessen, der 1922 die Paneuropa-Bewegung begründete. Es ist kein Zufall, daß dieses Ereignis im Jahre 1999, 50 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit der neuen Gesetzgebung am 23. Mai 1949, stattfindet. Die Bundesrepublik nahm nach den schmachvollen Jahren 1933-45 wieder ihren Platz in der europäischen Völkerfamilie ein. Die 50-Jahr-Feiern zur Gründung der Bundesrepublik Deutschland geben Anlaß, die Geschichte der Juden in Deutschland zu überdenken. Dabei erneuert sich die Überzeugung, daß jeder souveräne Staat seine Humanität und damit seine Stärke in der Toleranz gegenüber friedlichen — nicht militanten — Minderheiten beweisen muß. Seit 2.000 Jahren lebten Juden in den Gebieten, die später Deutschland genannt wurden. Der Titus-Triumphbogen in Rom stellt Gefangene aus Juda dar, die mit den Römern an den Rhein kamen. Als Gemeinde sind sie in Köln 321 nachweisbar, seit den Karolingern im neunten Jahrhundert in Metz, Trier, Köln, Worms, Mainz und Regensburg, seit dem 11. Jahrhundert in allen wichtigen Städten des deutschen Raumes. Sie lebten in der Kehilla — als Gemeinde mit Selbstverwaltung unter sich mit verschiedenen Privilegien — fast ungestört bis 1095, der Zeit der Kreuzzüge, in der die Juden-Pogrome in den Städten am Rhein begannen. Bis zur Zeit der Aufklärung und Emanzipation ist nur ein Einzelfall eines jüdischen Minnesängers bekannt: Süsskind von Trimberg, der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts lebte. Er ist der erste jüdische Dichter deutscher — mittelhochdeutscher — Sprache. Vom 14. bis 16. Jahrhundert flüchteten viele Juden vor den Verfolgungen nach Polen, von den polnischen Königen eingeladen. Es entstand das Jiddische aus deutschen, slawischen und hebräischen Worten. In den deutschen Ländern lebten die Juden in strenger Isolation, Thora und Talmud dominierten, es fand keine Begegnung mit deutscher Kultur statt. Dieses Leben dokumentierte Glückel von Hameln um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Die isolierte Gesellschaftsstruktur der jüdischen Gemeinden hielt sich bis zur Zeit von Moses Mendelsohn und Lessing um 1750. Moses Mendelsohn forderte, daß alle Juden sich der deutschen Kultur zudung würden Juden und Christen in der Menschheitsfamilie vereinen. Er war überzeugt, daß die volle menschliche und politische Emanzipation der Juden nur eine Frage der Zeit sei. Gleichzeitig glaubte er, daß die Juden dabei ihre religiös-kulturelle Identität würden bewahren können. Mendelsohn gab durch seine Freundschaft mit Lessing das Beispiel für. einen jüdisch-deutschen Dialog. Befürworter der Emanzipation erwarteten von den Juden eine vollständige Assimilation. Aber die Zahl der Aufklärer war klein und die jüdische Emanzipation konnte nur durch politische Verordnungen durchgesetzt werden. 1804 erließ Napoleon den code civil, der den Juden in den eroberten Ländern bürgerliche Rechte zusicherte; schon 1791 waren die Juden in Frankreich zu freien Staatsbürgern erklärt worden. Im Königreich Westfalen erließ der Bruder Napoleons Jeröme am 27. Januar 1808 ein Gesetz über die rechtliche Gleichstellung der Juden, das erste dieser Gesetze auf deutschem Boden. In Preußen bedeutete Hardenbergs Edikt vom 11. März 1812 eine Reform, denn die Juden erhielten die preußischen Staatsbürgerrechte. Sie hatten jetzt Zugang zu akademischen Lehrämtern, sie bekamen Ansiedlungsrechte, Recht auf Grundbesitz, genossen Gewerbefreiheit, waren von Sonderabgaben befreit und militärdienstpflichtig. Jedoch blieben die Juden von Staatsämtern und der Offizierslaufbahn ausgeschlossen und das Edikt galt nur für die