OCR
Provinzen, aus denen Preußen 1812 bestand. Die bedeutendsten Schriftsteller dieser Zeit waren Heine und Börne. Beide liebten Deutschland, beide traten für demokratische Verhältnisse und für Toleranz und Völkerverständigung ein. Beide, Juda Löw Baruch und Harry Heine, traten zum Christentum über. 1871 wurde im Reichstag das Emanzipationsgesetz verabschiedet, das gleiche bürgerliche und staatsbürgerliche Rechte für alle religiösen Bekenntnisse, also auch für Juden, schuf. Es begann eine Blütezeit, wirtschaftlich, wissenschaftlich, kulturell, vor allem literarisch. Mit diesen schnellen Aufstieg ging eine Assimilation der Mehrzahl der deutschen Juden an die deutsche Kultur einher, Religion wurde zu einer bloßen Konfession. Wichtig für das Identitätsgefühl dieser akkulturierten Juden — und Akkulturation ist der Einfluß mehrere Kulturen aufeinander und nicht Unterordnung einer Kultur unter eine andere — waren die deutsche Sprache und Literatur. Es gab.eine Talent-Explosion in der deutschen Literatur von 1870 bis 1933. Aber das Ende ist bekannt. Hanna Blitzer Veza Canettis Roman „Die Schildkröten“ Genau sechzig Jahre hat dieser Roman gebraucht, um die Öffentlichkeit zu erreichen. Es gibt kein besseres Argument für die Qualität eines Kunstwerks als sein Überdauern, und Veza Canettis Emigrationsroman ist kein bloßes Zeitdokument, es ist ein literarisches Kunstwerk, eigenständig und zugleich in einer erkennbaren Tradition stehend. Genaugenommen ist Die Schildkröten auch kein Emigrationsroman, auch wenn er mit dem Exil endet, sondern er beschreibt die vielen, unterschiedlich traumatischen Schritte der Ausgrenzung und Entrechtung der Juden zwischen März und November 1938, und obwohl seither viele Bücher darüber geschrieben wurden, fügt dieses Buch wesentlich Neues hinzu. Es ist das atemberaubende Tempo und die scheinbare Alltäglichkeit, mit der die Vertreibung vor sich geht, eine Vertreibung, an der die gesamte Bevölkerung in irgendeiner Form ihren Anteil hat und sich dabei keineswegs schuldig fühlt. Selbst aus der unmittelbaren zeitlichen Nähe, in der dieses Buch — 1939 im Londoner Exil — geschrieben wurde, entsteht ein differenziertes Bild von den halbherzig am Rand Stehenden zu den Mitläufern und den Tätern mit ihren durchsichtigen Motiven aus Habgier und Geltungssucht. Mit demselben unbestechlichen Scharfblick, mit dem Veza Canetti in ihren früheren Erzählungen die Leopoldstadt und ihre Menschen beschreibt, schildert sie hier, wie aus subalternen Duckmäusern rücksichtslose Ariseure werden, und wie sich fast über Nacht die ganze Stadt in eine einzige Gefahrenzone verwandelt und auch vor der Haustür nicht haltmacht. Die Parabelhaftigkeit der einzelnen Episoden und Symbole, wie etwa die Schildkröten als Symbol für die Widerstandsfähigkeit und zugleich Verwundbarkeit der Opfer oder das Flugzeug als Fluchtvehikel und zugleich als Mittel, den Juden das letzte Geld aus der Tasche zu ziehen, wird durch scharfe, differenzierte Beobachtung immer wieder ins Individuelle, Unverwechselbare gerückt. Die einzelnen Figuren stehen zwar einerseits für Haltungen, die die Wiener Bevölkerung einnimmt und fächern die Gradunterschiede der Mittäterschaft auf, aber sie bleiben nie im Prototypischen stecken. So zeigt sich etwa, daß die Arbeiterschaft und die unteren Schichten sich vorsichtig solidarisch verhalten und vor allem die Mittelschicht sich rücksichtslos am Raubzug beteiligt. Es sind vor allem die Machtlosen, die tschechische Putzfrau VIk zum Beispiel, die den Mut zur Solidarität aufbringen, während die Hausbesitzerin das jüdische Ehepaar Kain mit verschämten Schutzbehauptungen höflich bedauernd aber erbarmungslos aus dem Haus weist. Sie muß ja für das neue Regime sein, hat der Führer nicht versprochen, ihre Heimat Südtirol heim ins Reich zu holen? Gleichzeitig aber ist sie bereit, ihren Juden ein Versteck anzubieten, bis die Gefahr vorbei ist, aber nur solange ihr kein Nachteil daraus erwächst. Selbst bei Pilz, dem SA-Mann und Profi- Ariseur kommt die Brutalität mit perfider Harmlosigkeit daher, denn während er sie rücksichtslos aus ihrer Wohnung drängt, ja ihnen die Möbel schneller unter den Augen wegstiehlt, als sie das Haus verlassen können, fühlt er sich keineswegs als Dieb und Gewalttäter, sondern als Helfer und sogar als Opfer, hat er doch den Juden Felberbaum aus der Schutzhaft geholt, um dessen Besitz rechtmäßig zu requirieren und Ärger bekommen, weil er einen verbündeten Italiener für einen Juden hielt. Wie in den Geschichten von Die gelbe Stra‚Re oder Geduld bringt Rosen setzt Veza Canetti auch hier das Mittel der Satire und der Groteske ein, stärker vielleicht bei der Beschreibung der Verfolger, wo sich die Satire zu bitterem Sarkasmus zuspitzt. Das einzige Mittel, das den Verfolgten, vor allem den beiden Frauen Eva und Hilde bleibt, ist der Humor und ihr Verstand, mit denen sie die Gier gegen die Mordlust ihrer Verfolger auszuspielen versuchen. Aber je näher die Bedrohung rückt, desto schwieriger wird es, die Angst zu unterdrücken, die jedes Geräusch und jeden Schritt begleiten. Kaum jemals ist die Ungeheuerlichkeit dieser schrittweisen Entrechtung in aller Öffentlichkeit so eindringlich und genau beschrieben worden, so lakonisch und mit unbestechlichem Blick für die Motive der Täter und nicht, ohne der Bösartigkeit dieser manchmal geradezu tölpelhaften Machtübernahme durch den Pöbel ihren grotesken Humor abzugewinnen. In diesem Roman sind es vor allem die Frauen, die die Wucht der Vertreibung auffangen. Eva versucht, ihren weltfremden Dichtergatten zu beschützen, in dem unschwer Elias Canetti zu erkennen ist, „damit er sich seine Würde bewahren kann“. Doch seine Unschuld kann sie ihm nicht bewahren, und der Name Kain ist kein Zufall, er ist sowohl Anspielung auf Die Blendung (Kein) und biographischer Hinweis zugleich. Wie in der Blendung ist es der Bruder, Werner, der stärker in der Wirklichkeit lebt, auch wenn es eine archäologische, also eine Steinesammlung ist, deren Verlust er nicht verkraftet. 73