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Spurensuche Moriz Seeler „Die ‚Junge Bühne‘ bedeutete den ersten Vorstoß gegen den schon damals eingerosteten und steril gewordenen Theaterbetrieb. Schon damals, als die Berliner Direktoren noch auf glänzende geschäftliche Erfolge hinweisen konnten, zeigte sich, daß sie die Zeichen nicht mehr verstanden. Die Theaterkrise war noch nicht offiziell, aber sie kündigte sich an. Die ‚Junge Bühne‘ Moriz Seelers war das erste Signal. Es war noch die Zeit, als dramaturgische Freischärler das Theater berennen konnten, als man mit Entdeckungen von Dramatikern der Bühne Interesse und Diskussionsstoff zuführen mußte.‘ Solcherart lobend, rühmte der Kritiker Herbert Ihering 1932 das von 1922-1929 mit viel Idealismus betriebene Unternehmen des Literaten Moriz Seeler, mit großen Schauspielern und Regisseuren Matinee-Aufführungen neuer Stücke durchzuführen, die bei den Geschäftstheatern keine Chance hatten. Vor allem als Gründer der „Jungen Bühne“ und später des „Filmstudios 1929“, das den Film „Menschen am Sonntag“ produzierte, an dem auch die Gebrüder Siodmak und Billy Wilder beteiligt waren, taucht Moriz Seeler in den Erinnerungen vieler Autoren und Schauspieler der zwanziger Jahre auf. Weniger bekannt ist, daß dieser stets von einem Hund begleitete Stammgast des Romanischen Cafes auch mit leicht erotisch gefärbter, stilistisch an Rilke und Heym angelehnter Kaffeehauslyrik zu brillieren wußte. „Dem Hirtenknaben“ hieß ein 1919 von ihm publiziertes Gedichtheftchen. Weitere Texte von ihm erschienen in Hans Heinrich von Twardowskis Parodienband „Der rasende Pegasus“ sowie in den Zeitschriften „Das junge Deutschland“, „Die junge Kunst“ und „Der Feuerreiter“. Für Friedrich Hollaender textete Seeler 1927 die Revue „Bei uns um die Gedächtniskirche rum“. Ende 1932 führte er im Theater am Schiffbauerdamm erstmals Regie bei dem Stück „Das Automatenbuffet“ von Anna Gmeyner. Nach dem Machtantritt der Nazis arbeitete Seeler als Regisseur beim Jüdischen Kulturbund Rhein-Ruhr in Köln. In Wien erschien 1937 im Verlag von Richard Lanyi sein Gedichtband „Die Flut“, in dem die exotischen Welten Villons, Poes, Kiplings, Stevensons und Karl Mays beschworen werden, die in Trauer und Weltuntergangsstimmung getaucht sind: Eine große Flut des Blutes und der Trauer werde alles vernichten und selbst die Sonne zum Verlöschen bringen. Die Welt werde danach jedoch bleiben wie sie war: „gemein und Brutstatt eines frevelnden Geschlechts“. Bis 1938 hielt sich der in Deutschland gefährdete Poet öfters in Wien auf, von dort aber fand sich fiir ihn kein Weg in ein Rettung verheiBendes Exilland. Seeler ging zuriick nach Berlin und lebte hier meistens illegal, zuletzt untergetaucht bei dem schlesischen Schriftsteller August Scholtis. Mehrere Versuche, ins Ausland zu gelangen, schei76 terten. Seine letzte Berliner Adresse war das Jiidische Krankenhaus in der Iranischen StraBe. Am 1. August 1942 wurde er mit dem Transport Nr. 18 nach Riga deportiert: ,,Sterbeort Riga, Schicksal: verschollen“, heißt es in den Unterlagen des Bundesarchivs Koblenz, Abt. Potsdam. Günther Elbin hat kürzlich im Persona-Verlag von Lisette Buchholz seine „Spurensuche“ zu Moriz Seeler veröffentlicht, in der er alle ereichbaren Quellen über dessen letzte Lebensjahre gesichtet und ausgewertet hat. Seeler, der so viele junge Künstler gefördert, ihre Karriere begünstigt und entscheidende Hilfestellung geleistet hat, ist die zur Flucht nötige Hilfe nicht zuteil geworden. Er war weder Mitglied im Schriftstellerverband noch im PEN-Club, er besaß keinerlei Vermögen, er hatte keine Verwandten oder Freunde im Ausland, die für ihn zu bürgen bereit gewesen wären. Als Käthe Dorsch, Hubert von Mayerinck, Roma Bahn, Walter Franck und andere Schauspieler 1941 für ihn Geld sammelten, um ihn mit Mitteln für ein Untertauchen in Belgien auszustatten, soll Heinrich George, damals Intendant des Berliner Schiller-Theaters, mit dem Satz abgelehnt haben: „Er ist nun mal Jud, was kann ich dafür!“ Der Hauptteil des Buches beschäftigt sich, wie auch der Titel „Am Sonntag in die Matinee“ bedeutet, mit Moriz Seeler und seiner „Jungen Bühne“. Leider beschränkt sich EIbin hier auf das Material, das er bei Ihering und Kerr gefunden hat. Statt eines Versuchs, alle Veranstaltungen der „Jungen Bühne“ zu dokumentieren, werden im wesentlichen nur die in den Publikationen von Bronnen, Zuckmayer und Marieluise Fleißer erwähnten Kritiken und Briefe zitiert, dafür aber im Telegrammstil alle biographischen Daten der beteiligten Schauspieler, Autoren und Regisseure referiert, Auskünfte, die fast von jedem Theaterlexikon verläßlicher und sachlicher zu erhalten sind. Der „Hausherr“ des Deutschen Theaters zum Beispiel war nicht Leopold Jessner, sondern Heinz Hilpert. Franziska Kinz konnte 1923, als sie in „Olympia“ von Ernst Weiß mitwirkte, noch nicht bereits bei Max Reinhardt in Shaws „Die heilige Johanna“ auf sich aufmerksam gemacht haben, da dieses Stück erst im Oktober 1924 Berliner Premiere hatte. Ganz unbekannt war Elisabeth Bergner in Berlin nicht mehr, als sie im Frühjahr 1922 in „Vatermord“ den Rolf Fessel übernahm, sie hatte bereits 1921 einen großen Erfolg bei Victor Barnowsky in „Der lasterhafte Herr Tschu“. Herbert Ihering war nicht von 1936 bis Kriegsende Besetzungschef der Tobis. Bei dieser Filmfirma arbeitete er lediglich zwei Jahre, nach dem „Anschluß“ ging er 1938 mit Lothar Müthel, dem die Intendanz übertragen wurde, als Chefdramaturg ans Burgtheater. Im Fall von „Baal“ in der „Jungen Bühne“ handelte es sich nicht um eine „mit der Leipziger nicht gänzlich identischen Fassung“, sondern um die Premiere einer völlig neuen Fassung des Stücks mit dem Titel „Lebenslauf des Mannes Baal“. In der bei Elbin lediglich zehn Vorstellungen umfassenden Chronik der „Jungen Bühne“ fehlt auf jeden Fall Emil Burris Stück „Tim O’Mara“, das am 8.5. 1927 in der Regie von Lothar Müthel präsentiert wurde. Leider bringt das Buch nur eine Abbildung, auf der Seeler mit dem Team einer seiner Matinee-Vorstellungen zu sehen ist. Die junge Darstellerin in der Mitte zwischen Eugen Klöpfer und Walter Franck ist aber nicht Agnes Straub, sondern Franziska Kinz. Die Darstellerin mit Mittelscheitel neben Moriz Seeler ist keinesfalls Elisabeth Bergner, und bei dem als Alexander Granach bezeichneten Darsteller handelt es sich eindeutig um Leonard Steckel. Bedauerlicherweise enthält der Band nur fünf im Anhang mitgeteilte Gedichte von Moriz Seeler sowie nur einen literaturkritischen Aufsatz aus dem Berliner BörsenCourier des auf dem Gebiet der Kabarettdichtung und des literaturkritischen Feuilletons ja sattelfesten Poeten über Gedichte von Rilke bis Kästner, in dem es heißt: „Ja es ist eine schlechte Zeit für Lyrik, es wird und muß bis auf weiteres eine schlechte Zeit für Lyrik bleiben, aber dennoch — wer das deutsche Gedicht, das Gedicht der Bürger und Claudius, der Platen und Heine, der Droste und Hebbel, der Storm und Mörike, der Hölderlin und Nietzsche einmal wahrhaft erlebt ' hat, wem es unverlierbarer Besitz, ein anonymes Element der eigenen Existenz geworden ist, der weiß, daß gerade eine künftige Welt, eine neue Gesellschaft dieses ursprünglichste und echteste, dieses schönste und reinste Erzeugnis des deutschen Geistes, der deutschen Sprache, wieder entdecken und zu neuen Gipfelpunkten fortentwickeln wird.“ Klaus Völker Günther Elbin: Am Sonntag in die Matinee. Moriz Seeler und die Junge Bühne. Eine Spurensuche. Mannheim: Persona Verlag 1998. 128 S. OS 212,-/DM 29,-/SFr 26,50 Gegen den Strich In Zeiten, da Jörg Haiders ,,Freiheitliche“ mit ausländerfeindlichen Parolen Wahlen gewinnen und die beiden Großparteien sich gegen die „Ausgrenzung“ der Haider-Wähler aussprechen, muß jede Aktion, die sich für Toleranz und Verständnis anderer Art einsetzt, schon als großer Gewinn gefeiert werden. Die Sonderausstellung WIR. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien, die im Herbst 1996 im Historischen Museum der Stadt Wien gezeigt wurde, kann durchaus als ein solches Zeichen gegen den (Un-)Geist der Zeit und das sich verschärfende politische Klima gewertet werden. Wien - eine Stadt von Zuwanderern. Mit Hilfe zahlreicher Schaubilder, Texte, Gemälde (u.a. von Karl Stojka), Plakate, Graphiken und anderer Exponate wurde gezeigt, wie die Stadt von der Antike bis in die Gegenwart Migranten verschiedenster Herkunft auf