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Statt eines Editorials: „Juden sollten nie vergessen...“ Zu einem Artikelvon Ronald Barazon in den „Salzburger Nachrichten“ Bei den Nationalratswahlen am 3.. Oktober: 1999 gewann Jörg Haiders „Freiheitliche Partei Österreichs“ (FPÖ) Stimmen und Mandate. Unter den angesichts des „‚Erstärkens des Rechtsradikalismus in Österreich“ besorgten Stimmen im Ausland war jene des israelischen Außenministers, David Levy, wohl die deutlichste. Levy kündigte diplomatische Konsequenzen für den Fall an, daß die FPÖ in Österreich an der Regierung beteiligt werde. Wer die Verhältnisse in Österreich kennt, konnte die Reaktionen voraussehen. Bundespräsident Klestil, Außenminister Schüssel, Bundeskanzler Klima fühlten sich bemüßigt, die Haider-Wähler und -Partei vor „ungerechtfertigen Angriffen“ aus dem Ausland in Schutz zu nehmen und „Drohungen“ wie jene aus Israel „auf das schärfste“ zurückzuweisen. Vorauszusehen waren auch die Reaktionen der. heimischen Presse. Wenn eine der erfolgreichsten Boulvardzeitungen der Welt — die „Neue Kronen Zeitung“ — sich nicht in bewährter Xenophobie empört hätte, wäre es eine Sensation gewesen. Überraschend ist jedoch, daß sogar die „Salzburger Nachrichten“ (nach Eigendefinition eine „Qualitätszeitung“ und eine der größeren Tageszeitungen des Landes) vor Erklärungsmustern ä la „Neue Kronen Zeitung“ nicht zurückschreckten. Chefredakteur Ronald Barazon griff gleich selbst zur Feder. Am 8. Oktober 1999 erschien auf Seite 1 Barazons Artikel unter dem Titel „Die israelische Regierung schadet Israel und Österreich“, in dem er die „wütenden Angriffe“ des offiziellen Israel „auf die österreichischen Wähler“ kritisiert. Ob die Reaktion des israelischen Außenministers auf das Österreichische Wahlergebnis richtig, angemessen und zum gegebenen Zeitpunkt sinnvoll gewesen sein mag, darüber kann mag man geteilter Meinung sein. Aber Barazon bringt Argumente und Formulierungen ins Spiel, die über eine Abwägung von Schaden und Nutzen weit hinausgehen. So schreibt er zum Beispiel: „Juden sollten nie vergessen, daß das Leid, das dieser Gemeinschaft seit Jahrhunderten zugefügt wird, stets aus Pauschalurteilen und Verleumdungen entstanden ist. Pauschalurteile und Verleumdungen müßten daher Juden noch strenger vermeiden als andere.“ Abgesehen davon, daß hier wieder einmal pauschal von „den Juden“ gesprochen wird, impliziert dieses Argument — neu ist es ja keineswegs! —, daß Verfolgung und Leid die Opfer sozusagen menschlich veredeln würden. Leid hätte demnach eine pädagogische Komponente, und die Verursacher des Leids, mögen sie auch brutale Mörder sein, eine historische Aufgabe erfüllt. Die Unsinnigkeit einer solchen These haben schon die aus Österreich stammende Autorin Ruth Klüger und andere Überlebende der Shoah, so der ungarische Autor Imre Kertesz, aufgezeigt. Auschwitz ist keine Besserungsanstalt oder Universität des Lebens gewesen. Durch Verfolgung werden Menschen traumatisiert, verletzt, zerbrochen, verhärtet, fürs Leben gezeichnet, aber nicht humanisiert. Weder sie noch ihre Nachkommen haben darum die Verpflichtung, „Verleumdungen und Pauschalurteile noch strenger (zu) vermeiden als andere“. Müssen Juden bessere Menschen sein? Herr Barazon ist offenbar dieser Ansicht. Sind sie es nicht, ist die Enttäuschung um so größer. Nathan der Weise wird schnell wieder zum Shylock. Vom philoantisemitischen Paradoxon zum nächsten Zitat. Da die Haider-Kritiker „in diesem Fall Juden sind ...“ werde „jede ruhige und emotionslose Betrachtung des Themas unmöglich.“ Die „Anti-HaiderKampagne“ rücke die FPÖ vollends ins rechtsradikale Eck und eine negative Reaktion auf die Kritik aus Israel könne, so Barazon, als Antisemitismus „und somit als Fortsetzung der nationalsozialistischen Gräuel“ ausgelegt werden. 2 INHALT Supplement: Franz Kain-Kolloquium 1999 Möglichkeiten und Grenzen des Schreibens gegen des Faschismus ‚einst‘ und ‚jetzt‘ mit Beiträgen von Walter Wippersberg, Barbara Neuwirth, Konstantin Kaiser, Anna Mitgutsch, Erich Hackl, Richard Wall. S. I - XII (in der Blattmitte) Deutsche Fliichtlinge in Osterreich 1933 - 1938 Nachtrag zu Deutsche im Exil: Osterreich (MdZ Nr. 2/1999, S. 3-4)), E-Z S. 34-39 Martin Krist: Zwei vergessene Autoren - Alexander Solomonica und Michel Stone S. 4 Alexander Solomonica: Aus „Herr Heckfisch“ S. 6 Michael Stone: Aus „Das Blindeninstitut“ S. 7 Dora Müller: Der Brünner Lyriker Karl Kreisler S. 9 Ingrid Moroder: Oskar Jellinek zum 50. Geburtstag S. 11 ‘ Helena Tomanova-Weisovä: Prag ist eine schöne Stadt S. 15 H. Tomanovd-Weisova: Professor Deak erklärt den Tschechen ihre Geschichte S. 16 Isaak Malakh: Ein leiser Herbst in Wien. Gedichte 5. 18 Valerij Nikolaevskij: Fast wie ein Konsul. Aus dem Roman ‚Der Silberadler“ 5. 21 Edith Haider: August 1995. Gedichte S. 23 Valerie Lorenz: Grauer Tag im November S. 24 Sead Muhamedagic: Kroatiide. Ein Triptychon S. 25 Alfredo Bauer: Vor Luegers Standbild S. 26 Felix Kreissler: Abschied von Kurt Blaukopf S. 32 Berichte, Notizen: Dr. Altmann - Leiter des Israelitischen Blindeninstittuts (E.A., S. 8); Irene Eoebells Film mit Fred Wander (K.K., S. 27), Bil Spira gestorben (S. 27), Hans Viertel gestorben (Th. Viertel, S. 27), 1899-1999: 100 Jahre Brünner Nationalitätenprogramm (D. Müller, S. 28), Besuch im Jüdischen Museum Wien (A. Reinfrank, S. 28), Auszeichnung für Harry Zohn (5.29), Zum 95. Geburtstag von Rudolf Arnheim (Th. Schumann, S. 30), Writers in Exile (Th. Meier-Ewert, S. 31), Ceija Stojka-Film (S. 31), Literaturförderung in Österreich (S. 52), Theodor Kramer-Veranstaltung in Baden (S. 52). Rezensionen über Bücher von Martin Krist (S. Bolbecher, S. 9), Hedy Epstein (I. Aschner, S. 31), Michael Guttenbrunner (K. Kaiser und Chr. Teissl, S. 40), Myriam Annissimow (E.A., S. 41), Jiirgen Doll (F. Kreissler, S. 42), Jakob Blumenfeld (S. Alge, S. 44), Arno Lustiger (V. Vertlib, S. 45), Andrej Kokot (R. Schulak, S. 45), Ariel Dorfman (E. Hackl, S. 46), Antje Dertinger (H. Schwarz, S. 47), Kurt Hörbst (E. Hackl, S. 48), Ludwig Biro (E. Adunka/S. Bolbecher, S. 49). Buchzugännge S. 50, Briefe, Riickspiegel S. 51, Impressum S. 52 . Titelblatt: Ernst Eisenmayer: Blowing Bubbles.