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Martin Krist Zwei vergessene Autoren — Alexander Solomonica (1889-1941 oder 1942) Als Michael Stone noch Michael Kuh hieß und im Winter 1940/41 in einem Internierungslager in Kanada, in New Brunswick, in seiner Baracke mit 150 anderen internierten „feindlichen Ausländern“ einzuschlafen versuchte, rief er sich in Gedanken das Bild seiner Mutter, seiner beiden Schwestern und seines Vaters, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus Wien deportiert worden war, herbei. Und dann geschah das Unvorstellbare: Er konnte sich an das Aussehen seines Vaters — Alexander Solomonica — nicht mehr erinnern. Jahrzehnte später veröffentlichte Michael Stone ein Buch, das die Erinnerung an seinen Vater zum Inhalt hat und auch sämtliche Texte, die dieser veröffentlicht hat, enthält. Es ist ein schmaler Band, der 1990 in Berlin erschien.! Mittlerweile ist er leider vergriffen und in Österreich auch kaum über Bibliotheken greifbar. Einzig die Steiermärkische Landesbibliothek besitzt ein Exemplar. Alexander Solomonica wurde 1889 als Kind einer jüdischen Familie in Jassy in Rumänien geboren. 1891 kam er mit seinen Eltern nach Wien, später nach Berlin. Schon früh war Solomonica ein gliihender Verehrer und Anhänger Karl Kraus’ geworden, es gelang ihm sogar 1910 und 1911 vier seiner Erzählungen in der „Fackel“ zu veröffentlichen. (Ab 1911 fungierte Karl Kraus dann als alleiniger Autor.) Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges weigerte er sich, in das für ihn fremde Rumänien zurückzukehren und dort seinen Militärdienst abzuleisten. Daraufhin verlor er die Staatsbürgerschaft und blieb staatenlos, was ihn aber 1916 — beim Kriegseintritt Rumäniens an der Seite der Entente — nicht davor bewahrte, über ein Jahr lang in ein Internierungslager für „feindliche Ausländer“ in Holzminden gesteckt lin seine Erzählung „Herr Heckfisch“, die zuvor schon in der „Neuen Rundschau‘ abgedruckt worden war. Die Erzählung spielt im wilhelminischen Deutschland, knapp vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Herr Heckfisch führt das pedantische, unspektakuläre Leben eines kleinen, dienstbeflissenen Beamten, der in einem ärmlichen Untermietzimmer wohnt, in dem es nach Gas stinkt, was vom Vermieter auch auf Heckfisch’ Drängen hin nicht behoben wird. Er wird jede Nacht Zeuge der lautstarken Auseinandersetzungen seines Vermieterehepaares. Morgens geht er ins Amt, seine Vorgesetzten sind mit seiner Arbeit zufrieden, er selbst ist es auch, denn soeben ist er zum Obersekretär befördert worden. Seine einzige Leidenschaft sind Kaffeehausbesuche und das damit verbundene Billardspiel um Geld. Auf dem Weg ins Cafe, trifft er auf der Straße ehemalige Klassenkameraden, die gesellschaftlich über ihm stehen, begleitet sie und wird durch ihr distanziertes, zuweilen auch ablehnendes Verhalten zutiefst verunsichert. Herr Heckfisch verliert seine Souveränität, die er als Beamter normalerweise ausstrahlt, reagiert panisch und widersprüchlich, wirkt schlußendlich nur noch lächerlich. Er erwartet Achtung, erzählt aber zugleich unanständige Witze, er gibt vor, ein ernsthaftes Gespräch zu führen, gesteht aber im nächsten Atemzug, gelogen zu haben. 4 Eine ähnliche Verwirrung und Konfusion überfällt ihn, als er viel später als gewöhnlich in sein Stammkaffeehaus kommt. Das Publikum ist ihm nicht vertraut und besteht aus Arbeiter und lichtscheuen Gesellen. Er wird vom Kellner verwundert begrüßt, der ihm auch mitteilt, daß seine Billardpartner alle bereits heimgegangen seien. Herr Heckfisch verspürt aber den Zwang, spielen zu müssen, und so tritt er gegen den Arbeiter Meschelke an, der aufgrund seines plumpen Spiels kein Gegner für ihn zu sein scheint. Außerdem könnte Herr Heckfisch eine kleine finanzielle Aufbesserung gut gebrauchen. Doch die Katastrophe nimmt ihren Lauf. Er verliert Spiel um Spiel, verdoppelt jeweils den Einsatz, verliert wieder, verfällt in eine Art fieberhaften Wahn. Das Kaffeehaus leert sich, eine letzte Partie. Herr Heckfisch liegt gut, doch da berührt er im entscheidenden Augenblick mit seinem Ärmel eine Billardkugel. Dadurch hätte er das Spiel verloren, er spielt aber weiter, in der Hoffnung, sein Fehler bliebe unbemerkt. Doch Meschelke fordert seinen Gewinn, den Herr Heckfisch zunächst nicht herausrücken will, er gibt aber schließlich nach. Danach begleitet er Meschelke nach Hause, doch diesem behagt das nicht. Schlußendlich ermordet Herr Heckfisch Meschelke und empfindet dies als Befreiung, als Lösung. Diese Tat ist seine Gegenwehr, sie entspricht dem diffusen, immer grundsätzlicheren Unbehagen und der Verunsicherung des Herrn Heckfisch, die in wilden Haß auf die Menschheit umschlagen. In der Figur seines Protagonisten hat Alexander Solomonica einige politische und gesellschaftliche Entwicklungen vorweggenommen, die in den Mittelschichten erst in der Weimarer Republik zum Vorschein kamen: Die Verunsicherung durch ein immer selbstbewußter auftretendes Proletariat, die perspektivenlose Orientierung an überholten Gesellschaftsmodellen und die Bereitschaft zu einem destruktiven Radikalismus. Diese Erzählung erregte in literarischen Kreisen beträchtliches Aufsehen, erlebte auch noch eine zweite Auflage, doch danach veröffentlichte Alexander Solomonica bis auf einige kleine Erzählungen nichts mehr. Er war, erinnert sich Michael Stone, ein manischer Schreiber, korrigierte, schrieb und korrigierte, ließ aber nichts aus seinem Arbeitszimmer. Selbst die zwei Auflagen von „Herr Heckfisch“ hätte er am liebsten rückgängig gemacht. Überzeugt von seinem Genie, zog er sich zurück, fühlte sich verkannt und forderte von seiner Familie Unterwerfung und Pflichterfüllung. Seine Frau Marianne Kuh — die Schwester von Anton Kuh -, Mitarbeiterin im Berliner Malik Verlag, dürfte seinen Forderungen nachgekommen sein. Nach der Machtergreifung Hitlers emigrierte die Familie — Marianne Kuh und ihre Kinder waren österreichische Staatsbürger - im September 1933 von Berlin nach Wien. Alexander Solomonica, der bereits bei einer Razzia verhaftet worden war, mußte dabei als Staatenloser getarnt als Chauffeur eines Freundes illegal nach Österreich einreisen. Die materielle Situation der Familie in Wien wurde bald prekär. Außerdem verstand sich der heranwachsende Michael immer weniger mit seinem Vater, was dazu führte, daß er als 15-Jähriger in ein Schülerheim zog. Nach dem „Anschluß“ bemühte sich die Familie um Emigrationsmöglichkeiten, und verstärkte ihre Be