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Michael Stone Sonate in e-Moll, op. 90 Aus: Das Blindeninstitut. Bruchstück einer Jugend „Wer ist da?“ Er sitzt ganz ruhig da, mit dem Rücken zur Tür, wie eingefroren, den Kopf leicht zur Seite geneigt, die Hände noch über den Tasten: „Ist da jemand?“ „Ich bin’s, Michael.“ Sogleich löst sich die Starre. Er fängt die eben gespielte Passage noch einmal von vorne an. Michael drückt die Tür des Musikzimmers leise zu und geht auf Zehenspitzen zum Klavier. Es sind noch drei Wochen bis zum jährlichen Beethoven-Wettbewerb, der in diesem Jahr zum letzten Mal stattfinden wird. Ein Jahr später wird dieses Heim für blinde Kinder und Jugendliche geschlossen sein. Dr. Altmann, der Direktor, wird nach Amerika auswandern. Noch ein Jahr — und einige der Kinder werden bereits tot, ermordet sein. Und noch ein Jahr — und die anderen werden mit ihren Familien in Viehwagen in ein Ghetto in Polen transportiert worden sein. Ein Jahr darauf werden sie alle tot, ermordet sein. Auch Gerhard, der jetzt gerade Beethovens lieblichste Klaviersonate übt, die Sonate in e-Moll, op. 90. Auch die sanfte Lisbeth, vierzehn Jahre alt, die die meiste Zeit mit den kleineren Kindern verbringt. Auch der etwas ruppige Miklos, der sich mit seinen Fingern in die Geheimnisse der Radioelektronik eingefühlt hat. Auch die komische Alte, sie ist blind und taubstumm, die sich in diesen warmen Julitagen immer auf die oberste Stufe der Treppe zum Haupteingang des Instituts setzt und ihren gnomenhaften Kopf der Sonne entgegenstreckt. Nur Dr. Altmann versteht ihre Fingersprache. Manchmal stehen die beiden hinten im Garten oder im großen Speisesaal, und es sieht aus, als hielten sie sich an den Händen wie ein altes Liebespaar. Fast jeden Tag sitzt Michael hier, in der Zeit von vier bis fünf, um Gerhard beim Üben zuzuhören. Der muß sich den Flügel mit drei anderen teilen, die sich auch auf den Wettbewerb vorbereiten. Vor ihm ist Josef an der Reihe. Sein Paradestück: die 32 Variationen in c-Moll. Von fünf bis sechs steht das Musikzimmer Schlomoh zur Verfügung, der die Sonate Nr. 6 in F-Dur, op. 10/2, einstudiert. Ihm folgt der kleine, dickliche Pawel, der auf dem linken Auge noch ein bißchen sehen kann und deshalb eine Brille trägt. Er hat sich auf die Sonate Nr. 9 in E-Dur, op. 14/1, spezialisiert. Die anderen hört er auch manchmal vom Gang aus, und er hat auch schon versehentlich die Tür zum Musikzimmer geöffnet, wenn einer von ihnen beim Üben war. Es wäre falsch, dann die Tür schnell wieder zu schließen und wegzugehen. „Wer ist da?“ Der steife Rücken, der ein wenig zur Seite geneigte, witternde Kopf. „Ich bin’s, Michael. Ich gehe schon wieder.“ Erst dann kann er die Tür hinter sich zumachen, ohne den, der gerade dran ist, unruhig zurückzulassen. Gerhard ist zwei Jahre älter als Michael. Er hat ein schmales, längliches Gesicht mit auffallend vollen Lippen, die er beim Spielen zusammenpreßt. Manchmal hält er den Kopf schief nach oben, wobei er ein Auge öffnet und der weiße Augapfel sichtbar wird. Anfangs hatte dieser Anblick den Jüngeren erschreckt; inzwischen hat er sich daran gewöhnt. Ihre Freund8 schaft besteht nur in diesem Raum, in dieser Stunde. Der eine spielt, der andere hört zu. Gerhard konzentriert sich ganz auf die Musik, auf diese merkwürdige Heiterkeit und fast trällernde Verspieltheit des zweiten Satzes, die seiner Wesensart Widerstand zu leisten scheinen, denn er sitzt ziemlich steif da, die Oberarme dicht am Körper, Hände und Finger nicht locker, nicht nachgiebig genug. Michael nimmt nur auf. Diese Stille. Wenn ihm ein Lauf geglückt ist, huscht ein Lächeln über Gerhards Gesicht, und er atmet durch den Mund aus. Wenn er plötzlich einhält und die Stelle auf dem Notenblatt abtastet, wird der große Raum hörbar. Er saugt sich die Musik in die Finger und drückt sie danach auf den Tasten wieder aus. Von Beethoven wußte Michael zu der Zeit noch wenig, von der Sonate in e-Moll, op. 90, eine ganze Menge. Beethoven hatte sie seinem Gönner und Freund, dem Grafen Moritz Lichnowsky, zu dessen Verlobung mit einem Fräulein Stummer gewidmet. Vor dem ersten Satz steht: „Mit Lebhaftigkeit und durchaus mit Empfindung und Ausdruck“; vor dem zweiten: „Nicht zu geschwind und sehr singbar vorzutragen“. Seinem Biographen, Schindler, erklärte Beethoven, es handle sich um eine Liebesgeschichte: der erste Satz stelle den Kampf zwischen Kopf und Herz dar, zwischen dem Verstand und dem Liebenden aus. Zu Hause hatten sie ein altes Grammophon und eine recht bescheidene Sammlung von Schallplatten gehabt: ein paar Johann-Strauß-Walzer, „Parlez moi d’ämour“, Hans Moser, Karl Kraus. Jemand sang mit tönendem Baß: „Brausender Strom, rauschender Wald, starrender Fels mein Aufenthalt“; ein anderer mit heller Stimme: „Leise flehen meine Lieder durch die Nacht zu dir“, und auf der Rückseite: Du holde Kunst, in wieviel’ grauen Stunden, Wo mich des Lebens wilder Kreis umstrickt, Hast du mein Herz zu warmer Lieb’ entzunden, Hast mich in eine bessre Welt entrückt! Ein einziges Mal hatte ihn sein Vater zu einem Konzert mitgenommen: Lili Krauss, Klavier, und Simon Goldberg, Violine. Des Vaters bester Freund hatte die Karten besorgt: Lili Krauss war seine Frau. Die Geige von Simon Goldberg hatte Michael in der Pause in die Hand nehmen dürfen, in der Künstlergarderobe. Musik wurde für Michael aber erst zum Erlebnis, als er seinem blinden Freund zuhörte und sah, wie der sich Schritt um Schritt die Freiheit erkämpfte, heiter zu sein, unbelastet, ganz und gar der Magie des Augenblicks unterworfen, in dem aus den ersten fünf Takten des ersten Satzes ein lichtes Universum erwächst, das dann später, in dem liedhaften Rondo des zweiten, zu blühen beginnt. Die beiden sprachen nur wenig miteinander, und Michael konnte sich nie erklären, warum Gerhard ihn - als einzigen — beim Üben duldete. Wenn er fertig war, und an manchen Tagen nahm er nicht die ganze Stunde, die ihm zustand, in Anspruch, konnte es passieren, daß er sich beim Verlassen des Musikzimmers bei dem Jüngeren einhakte und sie gemeinsam die Treppen hinauf zum Aufenthaltsraum für die schon älteren Jugendlichen gingen. Dort ließ er Michael meistens stehen, es sei denn, ihm stand der Sinn nach einem Schachspiel, das er dann auch meistens gewann. Doch gewöhnlich suchte er seine eigenen Freunde auf, den langen, dunklen Markos, zum Beispiel, oder den feingliedrigen, immer etwas nervös wirkenden