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Ich tret’ einst mit ihnen vor’s Jüngste Gericht, Und das Urteil, das ihnen der Richter spricht, Wird auch für meiner Werke Verein Die Vernichtung oder der Lorbeer sein. Oskar Jellinek fühlt sich selbst zunehmend diesen unscheinbaren, vom Leben zurückgesetzten Existenzen zugehörig. Nichts jedoch lag ihm ferner, als sich ins Rampenlicht der Öffentlichkeit zu stellen. Angebote zur Verfilmung, Übersetzung oder dramatischen Adaption seiner Novellen, die dafür besonders geeignet schienen, lehnte er kategorisch ab, obwohl er wahrscheinlich gerade dadurch die Gelegenheit versäumte, zu etwas mehr Ruhm und Anerkennung zu gelangen. Doch „Kunst“ meinte er, „kommt nicht von können, sondern von nicht anders können“ und „Ich kann nicht, wenn ich nicht muß“. Aus dieser Sicht sind seine freiwillige Isolation und der absichtliche Abstand von allen zeitgenössischen Bewegungen und Kreisen, das Sichfernhalten von den Märkten der Literatur weniger als mangelndes Interesse für die politischen und gesellschaftlichen Ereignisse zu deuten, sondern eher als außergewöhnliche, ja übermäßige Bescheidenheit, Zurückhaltung und Schüchternheit zu erklären. Richard Thieberger berichtet, daß Freunde Oskar Jellinek gelegentlich scherzend als das größte Hindernis für die Verbreitung seiner Werke bezeichneten.® Üe sein literarisches Schaffen erschweren, schreibt er: Mein künstlerischer Weg ist schwer. Dichter aber Bürgersohn, der edlen Harmonie eines idealen Bürgertums sehnsüchtig zugehörig, aber erbitterter Feind der kapitalistischen Bourgeoisie, der Religion des Sozialismus gläubig, doch abhold der politischen Demokratie, überhaupt Gegner jeder Politik, Republikaner aus Gründen freier Menschlichkeit, aber stark erfüllt von den ästhetischen Werten monarchischer Kultur, deren eine, die uralte österreichische, meine Jugend verklärte, Österreicher von Geburt und Geblüt, aber Versteher seines Reichverfalls ... Ist einer „sozialer Dichter“ oder „weltfremder Ästhet“, so hat er’s leichter. Aber ich „Sozialästhet“, proletarisch entflammter Patriziermensch ... - wann gelingt mir das Werk, das mich als Menschen erlöst, als Künstler befriedigt?” ber seine Unsicherheiten und innerlichen Widersprüche, di Daß Oskar Jellinek sich sehr wohl über kulturpolitische Fragen Gedanken machte, und wie aktuell er war, läßt sich beispielsweise aus folgender Eintragung entnehmen: Als ernstes Unglück sehe ich heute nur, was ich schon damals fühlte, daß Wien wohl die Residenzhauptstadt, nicht aber die Reichshauptstadt im wahren Sinne dieses so viele Nationen umfassenden Imperiums war. Aus einem gemischt nationalen Kronlande stammend, empfand ich, in aller Hingegebenheit an die hingehende Stadt, daß sie ein berückendes Sonderleben führe, während sie der Mittel- und Bindepunkt der Nationen Österreichs hätte sein müssen, deren Wesen nur als ferne Sage an ihr sorgloses Ohr klang — wie sie, die Wienerstadt, auch den Nationen nichts als eine Sage blieb. Wiens Kulturgenie hätte die politischen Spannungen zwischen den Nationen fruchtbar sänftigen, viele Gegensätze in hoher Wölbung überbrücken können. Hier hätte es ein Theater der Nationen geben müssen, wo abwechselnd die dramatischen und musikdramatischen Talente aller Nationen Österreichs — vielleicht auch Ungarns — aufzuführen gewesen wären; ein Künstlerhaus der Nationen, das — ihre Maler und Bildhauer und durch diese die Gestalt ihrer Menschen, ihrer Landschaft, ihres Gesamtlebens - dem empJänglichen Sinn der Wiener einprägsam zu Gesicht gebracht hätte, eine in allen Sprachen der Nationen gedruckte Zeitung 12 oder Zeitschrift; ein Zentralverlag der Nationen für die Drucklegung ihrer epischen, lyrischen und musikalischen Werke; eine Schule der Nationen, wo Jugendgruppen jeder Nation (auch der alpendeutschen Stämme) je ein Jahr lang in ihrer Muttersprache Urlaub hätten genießen und mit den Kindern der anderen Nationen, auch denen der Wiener natürlich, in Fühlung hätten kommen müssen. Andererseits wäre systematisch dafür zu sorgen gewesen, daß Wiener Kinder einen Teil ihrer Ferien in tschechischen, slowakischen, polnischen, ukrainischen, ungarischen, kroatischen, italienischen u.s.w. Dörfern und den nationalen Hauptstädten verbringen. Die Wirklichkeit der Nationen des Reiches wäre der Reichshauptstadt als wirklicher MittelPunkt den Nationen vor Augen zu führen gewesen! Daher hätte es alljährlich in Wien auch eine Festwoche der Nationen Österreichs geben müssen, während deren zahlreiche Vertreter aller Völker Österreichs Gelegenheit gehabt hätten, mit dem Zentrum ihres Reiches in lebendige Berührung zu treten. Es hätte kein Dorf in Österreich geben dürfen, dessen Einwohner nicht zum größeren Teile mit dem Reichsmittelpunkte in irgendeiner Hinsicht vertraut gewesen wären. Aber die Nationen wurden der Regierung - auch dem greisen, höchst achtbaren, in der sauberen Erledigung seines täglichen Arbeitspensums musterhaften und in der Würde seiner Alterserscheinung väterlich-repräsentativen Monarchen — immer mehr zum bloßen Aktenproblem. Und wenn auch der Ministerpräsident Ernest von Körber, der letzte große Staatsmann des kaiserlichen Österreich, den - vergeblichen— Versuch machte, die Nationen durch ein umfassendes Wirtschaftsprogramm an das Reich zu binden — Wien lebte an seiner Aufgabe teils aristokratisch-jovial, teils volksmiitig-gemiitlich vorbei.'° Mit der Machtergreifung Hitlers können die Werke Oskar Jellineks aus „Rassengründen“ nicht mehr publiziert werden. Angebote, unter einem Pseudonym zu schreiben, lehnt er natürlich ab. Ein als Vortrag konzipiertes Buch „Die Geistes- und Lebenstragödie der Enkel Goethes“, das in der Schweiz erscheint, bleibt angesichts der gegebenen politischen Situation unbeachtet. Der „Anschluß“ Österreichs an Deutschland bedeutet für Oskar Jellinek nicht nur das endgültige Verbot seiner Werke, sondern auch die physische Vertreibung aus seiner so geliebten Heimat. In einem Brief vom 17.5. 1939 aus Paris, wahrscheinlich an Richard Thieberger, beschreibt der Dichter die bitteren Tage nach dem Einmarsch der deutschen Truppen: .. Viele Freunde und mir wohlbekannte Menschen sanken in Armut, Not und Pein aller Art, furchtbare Haft und Tod durch eigene Hand. Ich blieb ‚frei‘. Hedwig verlor nach 26jähriger Tätigkeit ihre Werkstatt. Ihre beiden Nachbarn, deren einer zu den neuen Machthabern gehörte und einen wichtigen Raum des Lokales für sich angefordert hatte, teilten sich das Ganze. Sie hätte ihr Gewerbe ohnedies nicht weiter ausüben dürfen — schmähende Inschriften bedeckten wiederholt ihre Auslage (wie die Tausender Anderer), die die reizenden Erzeugnisse ihres unermüdlichen Fleißes darboten. Der Wille der Staatsführung zur Enteignung (unter dem Schein eines ‚Verkaufes‘, der ‚Arisierung‘ genannt wurde) war zweifelhaft, — so löste sie denn auf, was ihr ohnehin schon entrissen war. Und weiter: Seit dem Tage der Überwältigung Österreichs habe ich kein Tagebuch mehr geführt. Das Leben war wie gelähmt, die Zeit lief irrsinnig im Kreise, das Recht war tot. Wien war gestorben. Straßen, die mir das Dasein bedeutet hatten, lagen als Leichen vor mir, ihre Anmut geschändet, ihr Antlitz wüst ver