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Professor Deak erklärt den Tschechen ihre Geschichte - eine kleine Erwiderung Unter dem Titel Die Tschechen haben sich schließlich mit der deutschen Okkupation abgefunden brachte die große Prager Tageszeitung Lidove noviny am 22.5. 1999 ein Interview des Redakteurs Stanislav PejSa mit Istvan Deak, emeritierter Professor der Columbia University New York, Spezialist fiir die Geschichte Mittel- und Osteuropas, Autor einiger Biicher, unter anderen A Social and Political History ofthe Habsburg Officer (1989). Deak arbeitet gegenwärtigan dem Werk Collaboration, Resistance and Retribution in Europe during and after World War II. Einige Ansichten Prof. Deaks stehen im Gegensatz zu den persönlichen Erfahrungen der Autorin. Ich zitiere. Deak: Um 1941 begannen die Menschen im Protektorat Böhmen und Mähren zu begreifen, daß man mit ihnen nicht schlechter umging als mit den Deutschen. Die Fabriksarbeiter hatten die gleichen Lebensmittelkarten und den gleichen Lohn wie die Deutschen. Sie waren auf ihre Weise privilegiert, da sie keinen Bombenangriffen ausgesetzt waren, was im Reich immerhin ein Problem war. Dazu sage ich: Allerdings nur in den Waffenfabriken, wo wichtiges Kriegsmaterial hergestellt wurde. Bombenangriffe wurden übrigens auch im „Reich“ erst ab Mitte 1942 ein Problem. Pejsa: Das Attentat auf Reinhardt Heydrich wird allgemein als Großtat des tschechischen Widerstandes betrachtet. Es geschah aber zu einem Zeitpunkt, als die Tschechen sich Ihrer Ansicht nach schon mit der Okkupation abgefunden hatten. Wenn die Bevölkerung ein so gutes Verhältnis zu den Deutschen hatte, wie Sie andeuten, weshalb wurde das Land nach dem Attentat so grausam bestraft? Deak: Das Land wurde keineswegs grausam bestraft. Ja, das Dorf Lidice wurde vernichtet, die Männer getötet und die Frauen und die Kinder deportiert. Aber in Prag und in anderen Städten ist niemandem etwas geschehen. Man sollte vorsichtig sein, wenn man von der Bestrafung eines ganzen Landes spricht. Ich würde nicht sagen, daß jemandem die Lebensmittelkarten entzogen wurden oder sein Lohn. Niemand wurde auf der Straße nur deshalb verhaftet, weil er ein Tscheche war. In Polen war das ganz anders. Dort war es geJährlich, ein Pole zu sein. In Prag war es gefährlich, ein Jude zu sein oder ein Widerstandskämpfer. Es gab auch eine gro‚Be Welle von Denunziationen. Viele Menschen, die nichts mit der Resistance zu tun hatten, wurden angezeigt und als Widerstandskämpfer verhaftet. Aber sonst wurde niemand bestraft. Das ist nur eine dieser Mythen. Gegen Kriegsende war hier eine der ruhigsten Regionen Europas. Dazu sage ich: Professor Deak ist ein namhafter Historiker, aber er war nicht dabei, als in Prag die Namen der Hingerichteten - lange Listen - verlesen wurden. Als die Lautsprecher in den Straßen die Meldungen brachten, stockte der Verkehr, die Leute blieben stehen, die Männer zogen den Hut. Zum Abschluß erklangen schnittige deutsche Märsche. — Wer dabei war, wird es nie vergessen. Das Überdenken der mit dem Zweiten Weltkrieg verbundenen Mythen sei ein gesamteuropäisches Problem, meint Professor Deak. Aber — cui bono?! Helena Tomanova-Weisova Helena Tomanoväa-Weisovä Prag ist eine schöne Stadt Alles war unwirklich. Sogar die Angst war nicht mehr da. Wirklich war nur der Traum. In der menschenleeren Halle eines Bahnhofs stand ich an der Rampe, von der aus man das Kommen und Gehen der Reisenden beobachten konnte. Breite, steinerne Stufen führten hinab in das Halbdunkel eines Tunnels, der zu den Bahnsteigen führte. Aber niemand kam an und niemand eilte zu den Zügen. Nur er ging die Stufen hinab. Ich prägte mir sein Aussehen genau ein, um darauf zu kommen, was ihn so sehr verändert hatte. Ja, das war der Anzug, der im Schrank fehlte, seitdem man ihn verhaftet hatte, das Hemd stand offen und - seine Haare waren weiß. Ich schrie auf und erwachte. Es war vier Uhr früh, am 17. Oktober 1941, während des ersten Standrechts im Protektorat Böhmen und Mähren, das der stellvertretende Reichsprotektor Reinhardt Heydrich verhängt hatte. Die Namen der Hingerichteten standen in allen Zeitungen und auch der meines Mannes war dabei. Am selben Tag bekam ich Besuch. Der Herr in Zivil kam gleich zur Sache: „Der Jude Otto Waldmann hat hier gewohnt?“ „Ja“, erwiderte ich. „Waren sie seine legitime Frau?“ Ich nickte und wunderte mich wie die Anwendung der Vergangenheit in seinen Worten die endgültige Abwesenheit meines Mannes festlegte: Er hatte hier gewohnt und ich war seine Frau gewesen... Der Herr verlangte unseren Trauschein zu sehen. Dann nahm er eine stramme Haltung ein und sprach: „Ich bin befugt ihnen mitzuteilen, daß ihr Gatte, der Jude Otto Waldmann, am 17. Oktober 1941 verurteilt und hingerichtet wurde.“ Ich studierte noch ein Papier, das er mir überreicht hatte. Unterzeichner war die Geheime Staatspolizei, Staatspolizeileitstelle Prag. Es enthielt das Verbot der Verfügung über den Besitz von Otto Waldmann. „Das ist alles?“, fragte ich. Schon an der Tür drehte er sich um und fügte hinzu: „Es ist ihnen untersagt, Trauer zu tragen.“ Schwarze Strümpfe waren Mangelware, ich kaufte schwarze Farbe und färbte zwei Paar Strümpfe und ein Kleid. Den schwarzen Mantel einer Freundin tauschte ich gegen meine Skihosen und warme Socken ein, Dinge, die sie für den Transport nach Theresienstadt besser brauchen konnte. Ich trug also die verbotene Trauerkleidung und sollte bald erfahren, daß ich nicht die einzige war. Man hatte uns, die Witwen der Hingerichteten, zur Übernahme der Totenscheine ins Rathaus bestellt. Ich weiß nicht mehr, wie viele wir waren. Wir warteten schweigend auf dem Gang, bis man uns in die Kanzlei rief. Der blasse tschechische Beamte am Schreibtisch stand auf und verbeugte sich leicht. Dann sagte er zu der Frau, die die erste im Alphabeth war: „Bitte, nehmen sie Platz“, und schob ihr einen Sessel hin. „Danke, ich bleibe stehen“, sagte sie und übernahm das Dokument. Einer nach der anderen bot der Beamte den Sessel an, alle aber nahmen stehend den Beweis der Vollstreckung der Urteile entgegen. Wir trennten uns schweigend, ein Häuflein Frauen in Trauer, alle in tiefstem Schwarz. Auch die Polizeidirektion in der berüchtigten Bartolom jskä, der Bartolomäusgasse, lud mich zu einer Amtshandlung vor. Wieder saß ein Beamter am Schreibtisch, ganz joviale Freundlichkeit: „Wir haben da ein Paket für sie, sie müssen nur den Empfang bestätigen.“ Er öffnete ein großes Paket, das stark nach Desinfektion roch. „Schauen sie sich die Sachen ge15