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nau an: Ein Hut, ein Mantel, die Bürgerlegitimation.“ Noch ein Zettel war dabei, darauf stand mit Bleistift geschrieben: Eine Armbanduhr, ein Ehering... darunter seine Unterschrift, schwungvoll und schräg nach oben. „In Ordnung?“ Ich nickte, obgleich Uhr und Ehering fehlten, unterschrieb ein Formular und packte seine Sachen wieder ins braune Papier. Dann fuhr ich mit der Tram nach Hause, das Paket auf meinem Schoß. An der Tür wartete schon Tschi, unsere kleine Hündin, um außer sich vor Freude an mir hochzuspringen. Sie ersetzte uns ein Kind, das wir uns versagen mußten. Plötzlich stieß das Tier einen seltsamen Laut aus und wich mit gesträubtem Fell und gefletschten Zähnen zurück: Tschi hatte das Paket entdeckt. Manchmal öffnete ich noch den Schrank, wo seine Anzüge hingen, um den vertrauten Duft einzuatmen. Alles war noch da, seine Wäsche und die Krawatten, auch die flache Schachtel mit dem Judenstern — gelb mit der schwarzen Aufschrift JUDE und der Sicherheitsnadel an der Rückseite. Er hatte ihn nie getragen, Anlaß genug für seine Verhaftung. Und weil gerade Standrecht war, wurde er hingerichtet. 160 Jahre nach dem Toleranzedikt Josef II., das die Emanzipation der Juden in den böhmischen Kronländern ermöglicht hatte. Meine schwarzen Kleider fielen auf. Der tschechische Hausmeister, dessen Tochter einen Freund bei der SS hatte, grüßte nicht mehr. Aber das Leben ging weiter und ich begann wieder mit dem Modezeichnen. Jeden Monat eine neue Kollektion für die vielen kleinen Schneiderinnen, die Kleider aus verschiedenen Stoffresten zusammenflickten. Einmal nötigte eine banale Verletzung an der Hand, die ich zum Zeichnen brauchte, den nahen Bezirksarzt aufzusuchen. Im Protektorat hatten Bezirksärzte, sofern sie den Mut dazu aufbrachten, ein breites Wirkungsfeld. Außer der normalen Praxis konnten nur sie zusätzliche Lebensmittelkarten verschreiben oder die Arbeitsunfähigkeit für den Einsatz im Reich bestätigen. Auch Medikamente wie Psychoton, die die Sinne bei Verhören schärften, waren gefragt. Angeblich gab es auch gewisse Tabletten für ausweglose Situationen... Aber damals, als Dr. Josef Sommer mich fragte, um wen ich trauerte, brauchte ich bloß einen Verband. „Ich bin Witwe“, erklärte ich — „seit dem Standrecht.“ „Ach so“, erwiderte er und ich erschrak, was redest du da? Aber er fuhr fort: „Meinen Bruder haben sie auch umgebracht, in Dresden.“ Dr. Sommer war um die dreißig, ein ländlicher Typ mit hellen Augen. Die Ordination gehörte zu seiner Wohnung und die Patienten sahen oft seine Kinder, ein kleines Mädchen und ein Baby im Kinderwagen. „Die älteste Bürgerin unserer Stadt hat man ins Messepalais gebraucht, im Auto, damit die Leute sie nicht sehen. Über hundert Jahre alt und auf Transport! Hallo? Was ist denn los mit Ihnen? Sie träumen ja, mitten im Krieg!“ Ich stellte mir die alte Dame vor, während er meinen Finger versorgte. Sie sitzt in einem Zimmer mit alten Möbeln, an der Wand verblaßte Fotografien in ovalen Rahmen, in der Vitrine Porzellan, ein bemalter Fächer und ein goldener Kinderschuh; ein Spitzenhäubchen bedeckt weißen Haarflaum. Sie sitzt und wartet... Nein, so kann es nicht gewesen sein, und der Arzt hat recht, vor der Wirklichkeit läuft man nicht davon. Wohin auch? Wohin? Prag ist eine Stadt der Legenden und dunklen Prophezeiungen. Von der St.-Wenzels-Krone wird erzählt, daß nur die böhmischen Könige sie tragen dürfen. Wenn ein Unbefugter versucht sie aufzusetzen, muß er sterben. Ob der stellvertretende Reichsprotektor sie bei der Besichtigung der böhmischen Krö16 nungskleinodien anprobierte, ist nicht erwiesen; Tatsache aber ist, daß er an den Folgen des auf ihn verübten Attentats starb. Die Folgen für die tschechische Bevölkerung waren so grausam, daß die ganze Welt davon erfuhr. Hunderte unschuldige Menschen wurden wegen Billigung des Attentats hingerichtet, in allen Wohnungen suchte die SS nach Waffen, sogar in den Kinderbetten. Das gesamte Arsenal des Terrors wurde eingesetzt, um jeden Widerstand so gründlich auszumerzen, wie das Dorf Lidice. Auch die Deportation der Juden war schon in vollem Gang. Anfangs hatte man Theresienstadt als Arbeitslager getarnt, junge Leute hatten sich sogar freiwillig gemeldet — zum Aufbautransport. Die Wahrheit offenbarte sich bald: Theresienstadt war ein Konzentrationslager. Damals beging Otto Skall, der bekannte Fotograf der Wiener Bühne, mit seiner Frau Selbstmord. Er war als Tschechoslowake nach dem Anschluß Österreichs nach Prag gekommen. Anstatt sich nach Erhalt des Transportzettels pünktlich im Messepalais einzufinden, lagen beide still und angekleidet auf dem breiten Ehebett in einem der vielen Zimmer der Nobelwohnungen in der Pariserstraße, die auf den Grundmauern des ehemaligen Ghettos erbaut worden waren. Vor den Transporten hatte man viele jüdische Familien in je ein Zimmer dieser Wohnungen übersiedelt. Dort, wo das Ehepaar Skall lag, befand sich noch ihr Gepäck mit der Transportnummer. Ich konnte meine Augen nicht von ihren Schuhen lasse — die Sohlen waren neu und sauber. Meine Freundin Hansi hingegen ging vor dem Transport mitihrem Söhnchen zum Fotografen. Im Palais Koruna am unteren Wenzelsplatz gab es ein Fotomaton genanntes Atelier, das die Aufnahmen auf eine Papierharmonika kopierte. Sie hatten, wenn man die kleine Harmonika auseinanderzog, die lebendige Bewegung eines Films: Tommy, zweijährig, pausbäckig wie ein Barockengel, lacht übers ganze Gesicht, zaust Mama die Haare und versteckt sich in ihren Armen. Hansi blickt direkt in die Kamera, damit man sie auch gut erkennt: „Das mußt du mir aufheben, für den Tommy...“ sagt sie mir zum Abschied. Ihr Mann, ein junger Maler, der seine Werke mit „Fritta“ (Fritz Taussig) unterzeichnete, erwartete sie schon in Theresienstadt. Ich glaube, daß es eben diese kleine Bildharmonika war, die mich veranlaßte, Kontakte zu den Freunden im Ghetto zu suchen. Ein Zufall kam mir zu Hilfe. Ich begegnete einem jungen Juristen, der zu jenen deutschen Studenten gehörte, die im Jahre 1934, beim Streit um die Insignien der Karlsuniversität, an der Seite der tschechischen Studenten standen. Gustav, Sohn eines im Weltkrieg gefallenen österreichischen Offiziers, hatte nicht um die Reichsbürgerschaft angesucht und war Protektoratsangehöriger. Es war sein stiller Protest, Ausdruck der Solidarität mit der demokratischen Tschechoslowakei, die immerhin dem von den Nazis ausgebürgerten Thomas Mann die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft angeboten und verliehen hatte. Mit Gustav, Freund im fremdgewordenen Prag, kommentierten wir nun die Frontnachrichten von Radio Beromünster, jener Schweizer Station, deren Signal nicht so auffallend war, wie das der BBC oder Moskaus, die man mit fließendem Wasser tarnen mußte. Wir erörterten wer neuerdings verhaftet worden war oder auf Transport mußte, ob die Lebensmittelpakete nach Theresienstadt auch in die richtigen Hände gelangten. Als ich erwähnte, daß meine Schwiegereltern vermutlich noch in Theresienstadt waren und nun auch Hansi mit dem Kleinen,