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erzählte mir Gustav von einer bescheidenen Hilfsaktion, deren Plan so einfach war, daß sie, bevor die Massentransporte nach Polen anfingen, tatsächlich funktionierte. Die Prager Transporte wurden von tschechischen Gendarmen eskortiert. Das ermöglichte eine Verbindung mit der jüdischen Ghettopolizei, deren Kennzeichen ihre gelbe Mütze war. Genauer gesagt die Verbindung eines gewissen Gendarmen mit dem Ghettopolizisten Karel. Wenn ein Transport ankam, war das von Bauschowitz direkt nach Theresienstadt fiihrende Viadukt unbewacht. [An der Bahnlinie Prag-Dresden war von Bauschowitz eine kurze Stichbahn nach Theresienstadt gebaut worden, um die Menschen-Transporte ,,besser abwickeln“ zu können. — Die Red.] Die Wachmannschaften konzentrierten sich auf die sogenannte „Schleuse“, die die neuen Lagerinsassen passieren mußten. Dort wurde ihr Gepäck untersucht und die wertvolleren Sachen abgenommen. Unterdessen aber konnte Gustav im Viadukt Briefe austauschen. Ich beschloß, ihn beim nächsten „Ausflug“ zu begleiten. Bauschowitz war die letzte Station vor der nahen ehemaligen Garnison Theresienstadt. Die alte Festung mit ihren Wällen hatte sich seit der Zeit der alten Donaumonarchie kaum verändert, nur die Wachtürme waren hinzugekommen. Während der Fahrt befürchteten wir eine Kontrolle. Wir hatten etwas Proviant wie für einen Tagesausflug mitgenommen, in den Semmeln eingerollte, auf Seidenpapier geschriebene Briefe. Aber die Fahrt verlief bis auf zwei requirierte lebende Kaninchen ohne Zwischenfall. Unbeachtet stiegen wir in Bauschowitz aus. Das Ziel unserer Reise war unbewacht. Das nahe Viadukt öffnete sich in einen düsteren Tunnel. Wir traten ein und gingen vorsichtig weiter, bis sich in der Dunkelheit eine gelbe Mütze abzeichnete. „Karel?“ flüsterte Gustav. „Karel“, erwiderte der Mann in der gelben Mütze. Im Halbdunkel wurden die Briefe schnell übergeben, auf der Theresienstädter Seite des Tunnels sah ich einen kleinen Buben in Trainingshosen mit Gummizug, bereit, etwas hineinzustecken. „Achtung! Ein Sondertransport kommt vorbei! Drückt euch an die Wand!“ Wir sahen ihn und den Jungen blitzschnell hinter dem Bogen des Viadukts verschwinden. Bewegungslos an die feuchte Mauer gepreßt hörten wir Hundegebell. Die Straße am Ende des Tunnels verwandelte sich in ein von Scheinwerfern erleuchtetes Proszenium. „Maul halten, weitergehen!“ Von der SS flankiert näherte sich ein Zug alter, vermummter Menschen, Nummern an Kleidern und Gepäck, gebückt, stolpernd, stumm. Ein Bild ergebener Verzweiflung. Sie zogen vorbei, bis das Licht der Scheinwerfer erlosch und das Gebell der Hunde verstummte. Schweigend erreichten wir die Station Bauschowitz. Aus den Theresienstädter Briefen erfuhr ich, daß meine Schwiegereltern schon im Familienlager Birkenau in Polen waren. Hansi, Tommy und den Maler Fritta hatte man in die berüchtigte kleine Festung Theresienstadt gebracht. Frittas Zeichnungen aus dem Lagerleben — besonders die Leichenwagen, auf denen das Brot für die Häftlinge transportiert wurde — hatten dem Lagerkommandanten nicht gefallen. „Was geschieht jetzt mit ihnen?“, fragte ich. „Man schickt sie weiter.“ „Wohin?“ Aber Gustav schwieg. Als ich bald danach auf das ,,Zentralamt für Regelung der Judenfrage in Böhmen und Mähren“ bestellt wurde, verhüllte ein barmherziger Nebel den Sinn der Mitteilung. Wieder war alles unwirklich. Sogar die Angst war nicht mehr da. Das Amt residierte in einer vornehmen Villa im Stadtviertel StfeSovice. Hier wurden Mischehen und Mischlinge im Hinblick auf weitere Deportationen beurteilt. Man siebte die Vorgeladenen durch das Netz der Nürnberger Gesetze und entschied über ihre Überlebenschance. Die Rassentheorie der Nazis war absurd, aber lächerlich war sie nicht. Sie spielte dem Tod in die Hände. Beim Betreten des Vorraums blieb ich erstaunt stehen. Ein junger Neger saß wartend auf einer Bank. Er las ein französisches Buch und schielte gleichfalls erstaunt zu mir hinüber. Vielleicht wegen meiner blonden Haare... Seine Gegenwart in der Zweigstelle der Gestapo für die Endlösung der Judenfrage war so unerwartet, daß ich ihn französisch fragte, ob er auch vorgeladen sei. Er nickte: „C’est dröle, n’est-ce pas?“ Eine komische Sache! Er stammte aus Tunis und hatte in Paris an der Sorbonne studiert. „Voyez-vous, je suis noir et je suis juif. C’est malheureux, hein?“ Ein Schwarzer und noch dazu ein Jude, so ein Pech!, erklärte er mit bitterem Lachen. Er kam nicht mehr dazu zu erklären, wie er nach Prag gekommen war, man rief meinen Namen. Ich hörte noch, daß er etwas flüsterte, es klang wie: „Bonne chance!“ Der Raum war groß und hell, auf langen Tischen geordnete Papiere, am Eingang ein Uniformierter der Protektoratspolizei, hinter einem der Tische eine Beamter in Zivil, wahrscheinlich SD - Sicherheitsdienst. Er bot mir einen Sessel an und befragte mich nach meinen Personalien. „Nur eine Formalität“, betonte er. „Also, Sie sind Mischling zweiten Grades... Nun, es wäre besser gewesen, einen Arier zu heiraten, aber Ihr Mann war Jude. Deshalb müssen Sie uns Ihre Papiere vorlegen. Sie wußten das nicht? Wir geben Ihnen also ein bißchen Zeit. Sagen wir drei Tage. Wir brauchen Ihren Taufschein, die Taufscheine Ihrer Eltern und von drei Großeltern. Sie kommen Freitag um 10 Uhr und - bitte pünktlich. Heil Hitler!“ Während er sprach, begann ich zu zittern, seine eisige Höflichkeit bedeutete eine Gefahr, die ich mir nicht erklären konnte. Ich war froh, daß der Uniformierte von der Protektoratspolizei mich zum Asgang führte. Seine Lippen bewegten sich fast lautlos: „Ich bin ein Freund, fahren Sie direkt nach Hause, ich muß mit Ihnen sprechen.“ Als ich ankam, stand er schon vor der Wohnungstür. Ich schloß schweigend auf und der Polizist, ein älterer Mensch, kam gleich zur Sache: „Meine Information ist streng vertrauiich. Kommende Woche wird ein Sondertransport abgefertigt. Ziel unbekannt. Ihr Name steht auch auf der Transportliste, aber mit einem Fragezeichen. Wenn Ihre Papiere in Ordnung sind, werden Sie gestrichen und das Amt wird Sie nicht mehr belästigen. Sie brauchen drei arische Grofelternteile. Wenn ihnen nur ein einziger Taufschein fehlt, werden Sie als Witwe eines Juden als Jüdin betrachtet und deportiert. Ich muß Ihre Papiere sehen, vielleicht kann ich Ihnen helfen.“ Ich brachte die Mappe mit den Dokumenten, wir sahen sie durch und sie schienen zu stimmen. „Nein“, sagte der Polizist, „der Taufschein Ihrer Großmutter aus der Schweiz fehlt, sie ist in Le Locle im Kanton Neufchätel geboren, wie es im Trauschein ihrer Großeltern steht.“ „Das genügt nicht?“ „Nein! Das Amt will den Taufschein!“ „Der Pfarrer hat einfach vergessen ihn zu schicken, meine Mutter hat das schon über die Schweizer Gesandtschaft urgiert...‘“ „Aber zu spät“, unterbrach er mich, „begreifen Sie doch, der Transport geht am Montag ab!“ Er schwieg eine Weile, dann fiel ihm ein: „Vielleicht könnten Sie von den Schweizern einen beliebigen Taufschein bekommen, das ließe sich dann einmontieren. Die Nazis sind zu selbstsicher, um die Papiere zu kontrollieren.“ Er reichte mir einen Zettel mit der Telefonnummer: „Auswendig lernen und ver17