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brennen. Rufen Sie mich im Laufe des Tages an, aber nur, wenn Sie das Papier haben. Ohne Taufschein kann ich Ihnen nicht helfen. Tut mir leid!“ Allein gelassen, war ich hellwach und hatte begriffen, was geschehen war und geschehen würde. Von den Schweizern konnte ich keine Hilfe erwarten, diese Erfahrung hatte ich schon gemacht. Was nun? Mir fielen nur die Tabletten des Bezirksarztes ein. Falls sie überhaupt existierten... Das Wartezimmer war wie immer voller Patienten, ich läutete an der Wohnungstür und klopfte an die zur Ordination führenden Tür. Dr. Sommer öffnete, er war zum Glück noch allein. Bis heute sehe ich ihn vor mir, im weißen Mantel, die unausgesprochene Frage im Gesicht. Ich begann mit der Tablette für ausweglose Situationen, das wäre entschieden besser, als das, was mich in Polen erwartete. Erst dann rückte ich damit heraus, was geschehen war. Ich sollte auf Transport, weil mir ein Taufschein fehlte — der meiner unbestreitbar arischen Großmutter. Der Schweizer Pfarrer hatte vergessen ihn zu schicken und einen beliebigen Taufschein aufzutreiben, schien unmöglich. Es war einfach zu spät für den legalen Weg, Freitag sollte ich die Papiere vorweisen und am Montag ging der Transport ab. Dr. Sommer hörte mich schweigend an, so wie Ärzte zuhören, wenn der Patient die Symptome einer bösartigen Geschwulst schildert. Dann atmete er auf und sagte: „Falls ich richtig verstehe, brauchen Sie den Taufschein einer Großmutter, die zu ihrem Schweizer Großvater paßt?“ Ich nickte. Dr. Sommer ging zum Schreibtisch, öffnete eine Schublade und entnahm ihr einen großen Briefumschlag. „Ich rate Ihnen meine zweite Großmutter, ihr Name paßt besser in die Schweiz, sie hieß Magdalena Zeman.“ Er zog das Dokument heraus, steckte es in ein Kuvert und reichte es mir. So einfach war die Sache. Am Freitag, pünktlich um zehn Uhr, übergab ich in der Villa in St¥eSovice die beglaubigten Fotokopien meiner perfekt hergerichteten Papiere. Dann ging ich zu Fuß zum nahen Hradschin. Vor dem Burgtor stand dire Wache, auf dem Flaggenmast wehte die Fahne mit dem Hakenkreuz, ein Beweis, daß der zweite stellvertretende Reichsprotektor Karl Hermann Frank zugegen war. Das Verlangen mich mitzuteilen, zu erzählen, daß ich leben durfte, ja, daß ich lebte, war so groß, daß der Burgplatz mit seiner Aussichtsrampe mich magisch anzog: Ich wollte allein sein mit meiner Stadt. Der Platz war menschenleer. Ich trat an die Brüstung und nahm das vertraute Bild in mir auf: zu den Dächern abfallend Gärten, Häuser, Gassen, Plätze und Türme — Praga caput regni! Der Rhythmus sich nähernder Schritte riß mich aus meinen Gedanken. Ein Wehrmachtssoldat, dessen fahle Blässe einen langen Spitalsaufenthalt verriet, kam, auf einen Stock gestützt, auf die Rampe zu. Da entglitt ihm der Stock, rot im Gesicht bemühte er sich ihn aufzuheben. Ich bückte mich und reichte ihm den Stock. „Danke“, sagte er ohne mich anzublicken und umklammerte den Griff. Dann schauten wir, an die Mauer gelehnt, hinab auf das berückende Bild. „Bine schöne Stadt“, sagte er nach einer Weile. „Ano, Praha je kräsn€ m sto“, erwiderte ich. „Prag ist eine schöne Stadt!“ Helena Tomanovä-Weisovä lebt in Prag und wurde den Lesern der MdZ in Nr. 2/1998 bereits ausführlich vorgestellt. Ihr Buch „Setkäni v Praze/Begegnungen in Prag“ ist über die Theodor Kramer Gesellschaft um OS 140,-/DM 20,-/SFr 18,— zu beziehen (inklusive Versand). 18 Isaak Malakh, geboren am 4.4. 1936 in Tschudnow (Ukraine), besuchte das Polytechnikum in Lvov (Lemberg), wo er dann 35 Jahre als Ingenieur im Maschinenbau tätig war. Während seine Mutter nun in Netanya (Israel) lebt, wohnt Isaak Malakh mit seiner Frau, einem Sohn und einer Tochter seit 1992 in Wien. Zwei weitere Kinder leben jetzt in den USA. Malakh arbeitet beim Jüdischen Museum der Stadt Wien. Gedichte schreibt Malakh seit seiner Kindheit. Erste Verse wurden in der „Pionierzeitung“ veröffentlicht; seitdem sind viele seiner Gedichte in Zeitschriften erschienen. Malakh veröffentlichte u.a. in russischer Sprache: Der Weg nach Auschwitz (Essay, 1968); Warschauer Melodien (Gedichte, 1969). Malakhs literarisches Archiv ging bei seiner Auswanderung aus der Sowjetunion verloren. In Wien vollendete er die autobiographischer Erzählung „Isaak, ein Kind des Krieges“. Malakh, seit 1998 österreichischer Staatsbürger, komponiert auch, vertont eigene Texte, so eine „Neue Wiener Hymne“ und das Lied „Wir Menschen auf Erden“. Malakh versucht auch, seine eigenen Arbeiten ins Deutsche zu übertragen und auf Deutsch zu schreiben. Wir hoffen, in MdZ demnächst noch verschiedene andere. Arbeiten Isaak Malakhs vorstellen zu können.