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WENN DU NICHT MEHR den Krug reichen darfst dem Durstigen, wenn es Missetat ist, das Brot zu brechen dem, der da hungert, wenn es dir verwehrt ist, deinen Mantel zu breiten über den, der Kälte leidet, nicht ans Herz nehmen darfst den Verzweifelten, dann hat sich die Weltordnung verkehrt. Manche haben es versucht — trotz allem — doch ihre Zahl reicht nicht aus zu rechtfertigen jene, die gleichgültig dabeistanden. Der Zyklus “Besuch in Mauthausen” umfaßt 40 Gedichte und entstand im August/September 1995. Edith Haider, 1931 in Wien geboren, lebt in Wien und Pfösing bei Wolkersdorf in Niederösterreich. Werke: Sicht des Vergehens (Lyrik, 1991); Der Tag diktiert die Parole (1993); Das Kleid aus Crepe Satin" (Erzählungen, 1995); Da Fux und da Rob. La Fontaines Tierfabeln auf Wienerisch (1998). 1994 mit dem Anerkennungspreis des Landes Niederösterreich ausgezeichnet. Valerie Lorenz Grauer Tag im November Eben war es noch Nachmittag, früher Nachmittag. Vor dem Fenster schon Winter, ein dunkler verhangener Himmel, der Schnee verhieß. In meiner Stube brannte ein helles Feuer und ich hatte noch gerade so viel Zeit vor mir. Ich war ganz allein im Haus. Ich werde lesen können, freute ich mich. Die Zeitung, ein Buch, oder auch nur blättern in Zeitschriften. Und vielleicht komme ich heute wieder einmal zum Schreiben, dachte ich mir. In vier, fünf Stunden kann man eine ganze Menge tun. Da lag auch die Strickerei im Keramikteller, die ich einmal angefangen hatte und deren verschiedenfarbige Wollknäuel schon ganz verfilzt waren vom Herumgezogenwerden. Daran wollte ich arbeiten. Ach, wie schön ist es, einmal so viel Zeit ganz für sich zu haben, tun und lassen können was einen freut, etwas weiter zu bringen um ein gutes Stück — ganz aufgeräumt war ich, als ich mir das alles überlegte. Ein Nachmittag war es, ein Nachmittag im November, aber im Zimmer war es warm und ich war allein im Haus. Was konnte da nicht alles verwirklicht werden! Und warum sollte nicht gerade dieser Tag Bedeutung bekommen? Vielleicht weiß ich ihn viele Jahre später noch, vielleicht merke ich mir sein Datum, so wie man Ereignisse, Festlichkeiten oft lange im Gedächtnis bewahrt. Mancherlei mochte sich ereignen. Be24 such konnte kommen. Es würde die Tür aufgehen und herein die Freundin treten, die lang schon verschollen ist, die ich aber immer noch so deutlich vor mir sehe, daß ich zuweilen träume von ihr. Schwere, traurige Träume sind es zumeist, die mir bis in die Tiefe meines Herzens weh tun, denn unsere Freundschaft war unerlöst geblieben. Aber sie beglücken mich trotzdem, denn sie bringen mich ihr auf diese Weise wieder ganz nahe. Oder aber es klopft, und Richard Eberle steht draußen, so wie früher, als wir noch gut zusammen waren, als ob wir uns nie überworfen hätten. Und ich werde mit einem Male unglaublich froh und ganz glücklich, wie ich den großen Mann lachen sehe. Anfangs bin ich vielleicht etwas verlegen, schau rasch auf mein Kleid herunter, das lang nicht das schönste ist von denen, die ich im Kasten hängen habe. Es war ja auch nur fürs Haus gedacht, aber für Richard hätte es das schönste sein sollen. Und ich wünsche mir, daß ich es bereits anhätte und daß ich doch gestern noch zum Friseur gegangen wäre, um mir mein Haar richten zu lassen, anstatt es wieder einmal aus Ersparungsgründen aufs Wochenende zu verschieben. Jedoch da läßt sich jetzt nichts mehr ändern. Und es kommt auch gar nicht so sehr darauf an, ich bin zu froh, daß er wieder da ist und führ ihn hinein und heiße ihn sitzen. Er ist gesprächig und gut gelaunt, wie damals, als wir uns kennenlernten, und wir trinken Tee unter der Lampe und alles ist dann wieder wie zu Anfang... Wie schnell die Zeit vergeht! Nun ist es Abend. Eisregen klatscht an die Scheiben und der Wind heult ums Haus. Im Ofen ist das Feuer erloschen, mich fröstelt es. Ich muß mir wieder einheizen, denke ich, und dann das Nachtmal richten. In einer Weile werden auch die anderen da sein und mit ihrem Lärm und Gerede die Stille zerreißen. Wo ist dieser Nachmittag hingekommen? Wo sind die vielen Stunden geblieben, was hab ich angefangen, was hab ich weitergebracht? Nichts, nichts, gar nichts! Nicht einmal zu schreiben habe ich versucht, und die Zeitungen liegen ungeöffnet auf dem Tisch. Es ist auch kein Besuch gekommen, wo denke ich hin. Die Freundin ist irgendwo über dem großen Wasser, wie sollte sie da zur Tür hereintreten? Das sind kindische Phantasien. Ich bin im Halbdunkel gesessen und habe mit offenen Augen geträumt. Und Richard — mit ihm ist es aus, was belüge ich mich Selbst stets wieder aufs Neue? Für ihn brauche ich kein schönes Kleid mehr, — doch für ihn wollte ich heiter und gut sein! Dieser Nachmittag ging vorbei wie ein Wehen. Wie alt ich in ein paar Stunden geworden bin! So wird das Leben vergehen, es wird vergangen sein, ohne daß ich recht weiß, wie, ohne daß ich es überhaupt gehabt habe. Aber wie wird es sein, wenn man sterben muß, ohne all das getan zu haben, was man sich vorgenommen, versprochen hat? Erzählung aus dem Nachlaß von Valerie Lorenz-Szabo (1916 - 1996), veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung von Philipp Wimmer (Wien). Valerie Lorenz, die jüdischer Herkunft war, heiratete 1937 den Dichter Wilhelm Szabo (1901 - 1986), überlebte an seiner Seite die NS-Herrschaft in Österreich, blieb durch den Beruf ihres Mannes viele Jahre ans niederösterreichische Waldviertel gebunden, ehe sie in das ihr heimatlichere Wien zurückkehren konnte. Zuletzt war in MdZ Nr. 4/1996, S. 24 - 27, ihre letzte Erzählung „Die Chronik - Warum nicht Moosbrunn! “ zu lesen. 1994 erschien ihr Erzählband „Veras Puppen“ bei der Edition Doppelpunkt in Wien.