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Welt schaffen zu können) oder statt eines Sprunges den Riß zu übertünchen versucht. Da war, um Bertolt Brecht zu paraphrasieren, in Österreich nach 1945 ja viele Tünche nötig, viele Tünche nötig. Die reale Zerklüftung unserer Welt hat seit den 1980er Jahren wieder rapide zugenommen, ob man die Erscheinungen nun als Disparität, Anomie, Auflösung der festen Formen beschreibt. Der Prozeß der Zerklüftung auf der einen Seite treibt auf der anderen Seite einen Drang nach falscher Idyllisierung des Daseins hervor, einen Drang nach nationaler Homogenität, nach Gefolgschaftsverhältnissen statt Arbeitsverträgen, nach scheinbar autonomen Lebenswelten, nach Gesamtkunstwerken; eine falsche Idyllisierung, die man, im Unterschied zur Volksgemeinschaft des Nationalsozialismus als eine defensive Volksgemeinschaft bezeichnen könnte. In ihr doch werden heute wieder faschistische Lösungen der ohnmächtig ertragenen Konflikte erträumt. Die Gleichzeitigkeit von Zerklüftung der Welt und Homogenisierung der Gesellschaft charakterisiert nach wie vor unsere Epoche. Von der Idylle sich wendend, ist der Schreibende stets in Gefahr, die aufgerissene Kluft zu bejahen und, künstlerischen Allmachtsphantasien folgend, sogar zu glauben, selbst in seinem Werk die Kluft aufreißen zu müssen, die das provinzielle Gemüt nicht wahrhaben will. So suche ich, immer mit dem Faschismus im Nacken, als Lyriker einen Weg, die Zerklüftung unserer Welt zu zeigen, ohne gleich alle Aussicht zu nehmen und ohne diese Zerklüftung auch noch zu inszenieren. Ich will mich nicht aufführen wie ein ... hysterischer Heiland,/ der kommt zu retten oder zu töten. Konstantin Kaiser, geboren in Innsbruck, lebt in Wien; studierte Philosophie, Mitbegründer der politisch-literarischen „Gruppe Hundsblume“. Ab 1983 selbstausbeuterischer freischaffender Literaturwissenschaftler, Ausstellungsmacher und Schriftsteller. Sekretär der Theodor Kramer Gesellschaft, Mitherausgeber von „Mit der Ziehharmonika“, Entdecker, Förderer — und damit auch Herausgeber von zahlreichen literarischen Werken der Exilliieratur. Bücher: Durchs Hinterland (1993); Auf den Straßen gehen (1996). Anna Mitgutsch ye. geht es doch in der Literatur immer wieder darum, was Menschen anderen Menschen antun.“ (An Konstantin Kaiser gewandt:) Nach diesem wunderschönen Statement ... habe ich mir nur einzelne Punkte sozusagen zum freien Extemporieren aufgeschrieben. Sprachlich werde ich nicht in Deine Nähe kommen. Ich habe mir einige Punkte zum Thema „engagierte Literatur“ überlegt. Diejenigen, die sich mit politischer Literatur, engagierter Literatur — wie immer man sie nennt — beschäftigen, werden bemerkt haben, daß Ende der 1980er Jahre auch in dieVI ser Beziehung in der Rezeption eine Trendwende einsetzte. Plötzlich las man im Feuilleton, wenn es um engagierte Literatur ging, es handle sich um Gesinnungskitsch. Dann legte man noch ein Schäuferl nach, wenn es um soziale Phänomene ging: Sozialkitsch. Und seither taucht immer wieder die Behauptung auf, daß engagierte Literatur, d.h. Literatur, die wohl Literatur ist, also ästhetisch durchaus als Kunst zu begreifen, aber eben auch das politische Engagement, soziales Engagement impliziert, daß diese Literatur eine minderwertige Literatur sei, verglichen mit der angeblich reinen Literatur, an der man sich nur erfreut, einer zweckfreien Literatur, die sich zur Unterhaltung besser eignet und zeitgeistiger ist. Es wird also das Gegensatzpaar impliziert: Gute Literatur, d.h. zweckfreie Literatur, also nicht engagierte Literatur auf der einen Seite, und gutgemeinte Literatur — das ist natürlich das Gegenteil von gut -, das ist die politisch engagierte Literatur der ewigen Alt-68er, die belehren und immer noch erziehen wollen. Was dabei aber unbeachtet bleibt, ist, daß Literatur zunehmend von der Unterhaltungsindustrie vereinnahmt wird und daß es keine wertfreie Literatur gibt. Wenn politisch engagierte, kritische Literatur nicht opportun ist und als ideologisch denunziert wird, dann ist ihr Gegenstück eben nicht Literatur pur, die wahre Literatur, sondern eine Literatur, die sich von einer neuen sozialdarwinistischen neoliberalen Ideologie instrumentalisieren läßt. Literatur handelt immer noch vom Menschen, und zwar von Menschen als soziale Wesen, in ihrer gesellschaftlichen Interaktion, und Menschen in ihrem historischen und politischen Umfeld. Wenn man das Individuum aus seinem sozialen und politischen Kontext herausnimmt, wie es in einer neueren Literaturrezeption gefordert wird, dann entspricht das eben genau der Ideologie des Neoliberalismus und des entfesselten Kapitalismus und ist keineswegs wertfrei. Ich rede damit nicht einer Literatur, einer Rezeption oder einer Art von Litcraturbetrachtung das Wort, die Literatur zum Instrument außerliterarischer Botschaften machen, aber wenn wir die Literaturgeschichte betrachten, dann geht es doch in der Literatur immer wieder darum, was Menschen anderen Meuschen antun. Und das ist eben außerhalb des sozialen Kuntexts nicht zu beschreiben. Außerdem sind die Ursachen menschlicher Handlungen nicht nur die Sozialisierung in der Familie, sondern es steht dahinter immer der jeweilige gesellschaftliche Kontext, und der Zeitgeist. Handlungen werden davon bestimmt, was in einer bestimmten Epoche akzeptiert wird und was nicht, und das ist eben auch politisch. en Dann noch zum Faschismus: Wir reden ja jetzt von der österreichischen Literatur, wir bleiben ja in einem engeren Kreis, da würde ich schon die spezifische Bezeichnung Nationalsozialismus wählen, denn Faschismus hat sich in Österreich eben als Nationalsozialismus ausgedrückt. Die Ideologie des Nationalsozialismus erscheint mir noch immer eine fortwirkende soziale Kraft zu sein. Natürlich, alles verändert sich, und man muß ihn nur in seiner verwandelten Gestalt wiedererkennen. Aber solche Dinge wie Verachtung des einzelnen als sozialem Wesen, ein neuer Sozialdarwinismus, Gleichschaltung durch Konsumhaltungen, Ausgrenzung der Schwachen, Rassismus als ein scheinbares Produkt des Verdrängungsmechanismus, das sind alles Erscheinungen unserer Zeit, und die Reaktionen scheinen mir aus der nationalsozialistischen Ideologie herleitbar. Auch die freie Marktwirtschaft ist asozial und menschen