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Das zweite Zitat ist eine Stelle aus Alfred Kantorowicz’ „Spanischem Kriegstagebuch“. Kantorowicz hat am 19.Juni 1937 notiert: „Man muß illusionslos leben. Jeder von uns muß, bei allem, was er tut, allem, was er schreibt und denkt, mit der Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit rechnen, daß es ä fond perdu getan, gedacht, geschrieben ist. Und er muß es trotzdem tun. Die einzige Hoffnung, die er nähren darf, ist die, daß künftige Geschlechter sich wieder einmal dessen, was er getan, geschrieben hat, erinnern werden, daß es vielleicht der eine unter tausend sein wird, dessen Handlungen durch einen Zufall wieder ins Gedächtnis der Nachfahren zurückgerufen und als Exempel statuiert werden. Dieser Zufall ist möglich. Mit ihm rechnen darf jeder. — Laß uns so leben und sterben, daß diese Chance uns bleibt.“ Das ist eine scheinbar paradoxe Offenbarung für einen Menschen, der gegen den Faschismus gekämpft und geschrieben hat - paradox deshalb, weil er zwar eine militante, besser: eingreifende Literatur schreibt, doch die Wirkung seines gegenwärtigen Widerstands der Zukunft anvertraut und selbst dieses Vertrauen durch Skepsis bricht. Von den beiden Positionen, die sich durch die Zitate erhellen, ist nur die von Kantorowicz übriggeblieben - ich glaube, uns alle eint die Überzeugung, daß wir ä fond perdu schreiben, wenn wir gegen den Faschismus schreiben. Und trotzdem schreiben wir, immer am Rande des Verstummens, wobei uns selbst Kantorowicz‘ Worte noch optimistisch klingen, da wir, illusionsloser noch als er, der Nachwelt nicht zugestehen, was uns die Gegenwart versagt; wir verstehen keinen Spaß, denn wir sind ebensowenig fortschrittsgläubig wie der kommunistische Zwischenrufer in Franz Kains Roman „Am Taubenmarkt“, der den Sozialdemokraten vorwirft, „die eigene Tradition vor lauter Bravsein“ zu begraben. Also. Guntram Vesper, den nicht losläßt, „was lange vorbei ist und immer erst anfängt‘. Vielleicht beschäftigt uns am Faschismus — an dessen historischen Erscheinungsformen ebenso wie an den aktuellen oder aktualisierbaren Varianten — gerade die Tatsache, daß er eine Fülle von Lebensentwürfen, Erfahrungen, Möglichkeiten einer Verständigung verschüttet hat, die wir schreibend zu retten versuchen. Entgegen der inzwischen landläufigen Meinung, daß antifaschistische Literatur praktizierte Defensive sei, deren Anlaß noch dazu fernab oder weit zurück liegt, beharre ich auf ihrer Unmittelbarkeit, ihrer Lebensnähe, ihrer Zeitgenossenschaft. Dies gilt, solange sie sich weigert, Geschehenes als vergangen anzuerkennen, ohne aber den historischen oder geographischen Abstand zu verwischen. Man soll sich nicht irremachen lassen von dem Wörtchen «gegen«, das heutzutage den Beliebigkeitsfanatikern, die alles wollen, nur keinen Widerstand, übel aufstößt — wer gegen Faschismus schreibt, schreibt nicht nur gegen die Fehler derer, die ihm begegnet sind, sondern auch und vor allem für das Fehlende, in erster Linie für die Würde des Erinnerns. Es wäre die falsche „antifaschistische“ Literatur, die die Erringung oder Wiederherstellung dieser Würde im Sinne einer strikten Arbeitsteilung einer Ideologie oder Partei überantworten möchte. Wir sind, habe ich behauptet, immer am Rande des Verstummens. Verstummen, weil keine soziale Bewegung, die antifaschistische Literatur ihrer Selbstversicherung willen braucht, zu spüren ist. Verstummen, weil man sich der medialen Banalisierung des Bereichs, in dem Literatur öffentlich wird, verweigern muß. Verstummen, weil alle, die aus inneVI rem Bediirfnis, nicht aus Kalktil, gegen Faschismus schreiben, mit dem Zusammenhang und Zusammenhalt von Leben und Literatur, von eigener und fremder Biografie fertigwerden müssen. In Vespers Gedicht „Landmeer“ heißt es: „Wir dürfen unser/ Leben/ nicht beschreiben, wie wir es/ gelebt haben/ sondern müssen es/ so leben/ wie wir es erzählen werden:/ Mitleid/ Trauer und Empörung.“ Was aber, wenn wir allmählich oder jäh aufschreckend eines Nachts gewahr werden, daß sich unser Tun der Literatur entzieht, die wir schaffen? Daß wir das Leben anders leben, als wir es erzählen werden? Dann, denke ich, ist Verstummen angebracht, das immer noch besser ist als die milde Lüge, wir könnten dem Menschenbild, dem wir selbst nicht mehr gerecht werden, im Wort treu bleiben. Erich Hackl, geboren in Steyr (Oberösterreich) und dort auch aufgewachsen; Studium der Germanistik und Hispanistik. Lehrer und Lehrbeauftragter in Wien und Madrid. Ab 1976 regelmäiger Mitarbeiter der Zeitschrift „Wiener Tagebuch“. Übersetzer spanischer und lateinamerikanischer Literatur; u. a. Herausgeber der Anthologie „Hier ist niemand gestorben“. Seit 1983 freischaffender Schriftsteller in Wien, veröffentlichte zahlreiche Essays und Porträts in WochenZeitung (Zürich), Die Presse, Literatur und Kritik (Salzburg), MaZ. Bücher: Auroras Anlaß (1987); Abschied von Sidonie (1989); König Wamba (1991); Sara und Simön (1995); In fester Umarmung (1996); Entwurf einer Liebe auf den ersten Blick (1999). Richard Wall Der Weg zum Ödensee oder wem gehör(t)en die Berge I Ich weiß nicht mehr genau, was mich und meinen Bruder dazu bewogen hat, am Freitag, dem 20. Februar 1976, die Lesung von Franz Kain im Gasthof Dangl in Urfahr zu besuchen. Der Gasthof Dangl befand sich von Linz kommend am linken Brückenkopf der Nibelungenbrücke — zusammen mit zwei anderen Gasthäusern etwa dort, wo sich heute jener Klotz befindet, der im Volksmund als Tintenburg bezeichnet wird, offiziell als Neues Rathaus addressiert wird. Man mußte einige Stufen hinuntersteigen auf das Niveau der mit Granitwürfel gepflasterten Ottensheimer Straße, um den der Donau zugewandten Eingang des Gasthauses erreichen zu können. Diese etwas heruntergekommene Gegend im Bereich Steinmetzplatzl, Flußgasse, Ottensheimer Straße, Fischergasse und Donau war in der Zeit der 50er, 60er und bis herauf in die Mitte der 70er Jahre nicht unbedeutend für das kulturelle Leben der Stadt Linz. Es gab dort Ateliers der „Schabledergruppe“ und die legendäre Galerie Kliemstein in der Ottensheimer Straße Nr. 10. Der Dangl-Wirt war Bestandteil dieser „Szene“. Nachdem alle ihre Getränke vor sich am Tisch hatten, begann ein kräftiger, untersetzter Mann um die 50, dessen Oberlippe ein kräftiger Schnauzbart zierte, und der sich in regelmäßigen Abständen mit einer Hand eine widerspenstige, leicht gelockte Haarsträhne aus der Stirn strich, mit sonorer, bedächtiger, nahezu großväterlicher Stimme zu lesen. |