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waren, als sie die Ausweise der Hütteninsassen prüften, ernsthaft im Zweifel, ob sie tatsächlich die Richtigen gefunden hatten. Die Ausweise waren echt, und die drei Militärärzte erklärten mit erhobenem Haupt, sie würden ohnehin in den nächsten Tagen ins Tal hinabsteigen, um sich für die Arbeit im Dienste der schwer angeschlagenen Volksgesundheit zur Verfügung zu stellen. Die fremden Soldaten waren unschlüssig geworden. Da trat der Jäger vor, der sie geführt hatte, und erklärte: „Sie sind es, nehmt sie fest, ich kenne sie genau.“ Kaltenbrunner sah ihn an, aber der Jäger wich seinem Blick nicht aus. II Franz Kain nennt seine Sammlung kürzerer Prosatexte nicht Erzählungen, sondern „Geschichten“. Tatsächlich nimmt Franz Kain anhand dieser Geschichten historische Vorgänge unter die Lupe, ausschnitthaft, in der Meinung, scheinbar Nebensächliches offenbare manchmal mehr über eine Zeit als die von Historikern und offizieller Seite aufgezeichneten „Haupt- und Staatsaktionen“ (F.K.). In seinem kurzen, abschließenden Essay Von den Würgmalen gibt er Auskunft über seine Philosophie und die Beweggründe seines Schreibens. „Der Weg zum Ödensee“ ist ein höchst artifiziell gewebtes Stück Literatur, das, abgesehen vom Hauptstrang des Geschehens, eine Vielfalt an historischen und kulturhistorischen Themen, die Geschichte Österreichs betreffend, anspricht, aber auch die Psychologie eines Täters, eines typisch österreichischen Täters, vom Format eines Kaltenbrunner bloßlegt. An sogenannter äußerer Handlung tut sich wenig: Vier Personen steigen mit schweren Rucksäcken beladen ins Tote Gebirge und sind meist wortlos mit den körperlichen Strapazen dieses Aufstiegs beschäftigt. Der Autor verleiht nur dem „Held“ eine Stimme und vor allem ein nahezu unablässig reflektierendes Gedächtnis, dessen Lücken dem Leser nicht entgehen, vor allem auch durch die ans Ende der Kapitel (Ausnahme Kapitel VII) montierten, kursiv gesetzten Rückblenden. Mit dem Fortgang der Geschichte wird nicht nur die politische Zugehörigkeit des „Helden“ und dessen hochrangige Funktion und damit dessen Verantwortung dem Leser mitgeteilt, sondern auch seine Person von verschiedenen Seiten her beleuchtet, was vor allem durch die gelungene Montage-Technik möglich wird. Die Ereignisse werden gleichsam von der Weltanschauung des „Helden“ gefiltert an den Leser weitergegeben, der dadurch gezwungen wird, selber Stellung zu nehmen. Jeder der den Weg von Altaussee zur Wildenseealm geht, findet vor, was F. K. in seiner Erzählung erwähnt: zuerst den steilen Anstieg, die drohenden Wächten an der Leeseite der Weißen Wand (die abgebrochen und als Lawinen abgegangen die Aufstiegsspuren verwischen), den einzigartigen Blick zurück ins Tal vom Hochklapfsattel und weitergehend in die andere Richtung die Zirbenbestände im weiten Kessel der Augstalm, das wellige, flachere Stück zwischen dem genannten Sattel und die weithin sichtbare Jagdhütte knapp vor der Wildenseealm. Was er schuldig bleibt ist eine Kleinigkeit: nämlich ob der Jäger und die SS-ler Steigfelle an den Schiern hatten oder nicht, aber das ist eine Nebensache, d. h. diese Aufstiegshilfen spielen fiir den Fort- bzw. Ausgang der Geschichte bzw. deren Gestaltung keine Rolle. P.S.: AbschlieBend noch ein paar Gedankensplitter, die ich aus zeitlichen Gründen hier nicht näher ausführen kann: Kains Literatur nur auf einen engen politischen Impetus, bzw. auf eine antifaschistische didaktische Absicht hin lesen bzw. interpretieren zu wollen, greift zu kurz. Wie bei dem großen englischen, in Savoyen als Bergbauer und Schriftsteller lebenden John Berger zeugt Kains Literatur auch von einer großen Sympathie zu jenen Erscheinungsformen, die wir gemeinhin als Natur zu bezeichnen gelernt haben, zu den Tieren, zu den Bäumen (letztere interessieren ihn als Individualitäten und nicht wie Stifter in ihrer kollektiven Erscheinungsweise als Wald), aber auch zum Werkzeug, zu den Dingen des alltäglichen Lebens. Ich verweise in diesem Zusammenhang vor allem auf die Seiten 67 bis 72 und 153 bis 155 im Roman Am Taubenmarkt, auf die Seiten 21 bis 23 in der Erzählung Die Lawine und zitiere nur kurz einen Satz aus der Geschichte Froschkönig: Dann haben sie den Stein betrachtet wie etwas Lebendes ... Ich wage zu behaupten, daß der Kommunist Franz Kain über Erscheinungsformen und Zusammenhänge in der heimischen Natur — und wahrscheinlich nicht nur in dieser — besser Bescheid wußte als gegenwärtig ein Großteil der „Grünen“ respektive „Grün-Wähler“. Kains didaktische Absicht, den sogenannten einfachen Menschen, die stets die ersten und die letzten Opfer sind in „heroischen“ Zeiten, mit seiner Literatur die Augen zu öffnen, also im weitesten Sinne aufklärerisch zu wirken, wurde von vielen belächelt und wird auch heute von vielen als obsolet angesehen, nicht zuletzt von jenen Kollegen, die sich einer Schreib- respektive Ausdruckweise verpflichtet fühlen, die sie mit „Sprache als Kunst‘ definieren (oder umschreiben) und nicht nur ihre, sondern jede Literatur von allem Gesellschaftlichem „befreit“ sehen wollen. Selbstverständlich kann man gegen Kains Literatur anführen, daß jene, für die er hauptsächlich geschrieben hat, heute kaum über die Lektüre kleinformatiger Zeitungen hinauskommen. Für Jugendliche dürfte auch seine Literatur derzeit alles andere als ‚in‘ sein. Man mag dies und noch vieles andere gegen ihn und seine Literatur einwerfen, vielleicht auch das alte Argument, daß man „so“ nicht mehr erzählen könne, bzw. überhaupt die Zeiten des Erzählens vorbei seien (blind gegenüber der Tatsache, daß derzeit soviel erzählt wird wie schon lange nicht mehr). Obwohl ich mich aufgrund der Literatur, die ich „produziere“, nicht als „Erzähler“ sehe/einschätze, bin ich bei derartigen Einwänden stets auf seiner, nämlich auf Kains Seite. = Und sollte er tatsächlich gescheitert sein, was ich nicht glaube, so hat er immerhin etwas absolut Einzigartiges gewagt/versucht, trotz aller Widerstände und Unkenrufe, er hat den Stein aufgenommen, wie schon so viele vor ihm. Wie sagte doch Camus? „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“ — ? Richard Wall, geboren in Engerwitzdorf (Oberösterreich), besuchte die Hochschule für künstlerische und industrielle Gestaltung in Linz; Kunst- und Werkerzieher. Seit 1975 regelmäßige Aufenthalte. in Irland. Lebt in Katsdorf (Oberösterreich). Bücher: Ringsherum Schnee (1987); Die Nacht wird kalt (Gedichte, 1988); Blackthorn nit der Sichel das Korn (Irisches ReiseJournal, 1989); Sommerlich Dorf (Miniaturen, 1992); Schwellenlicht — Schattenbahn (Gedichte, 1995); Wittgenstein in Irland (1999). XII