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Thomas B. Schumann Rudolf Arnheim ist einer der allerletzten großen, von den Nationalsozialisten exilierten Vertreter deutsch-jüdischer Kultur‚und Geistesgeschichte sowie einer der letzten Zeugen und intellektuellen Mitgestalter der Weimarer Republik. Er wurde 1904 als Sohn eines jüdischen Klavierfabrikanten in Berlin geboren, studierte Psychologie, Philosophie, Kunst- und Musikgeschichte und promovierte 1928 über Ausdruckswahrnehmung an Handschriften und Gesichtern. Schon mit 21 Jahren begann er mit journalistischer Arbeit — etwa für die renommierte „Vossische Zeitung“ oder das „Berliner Tageblatt“. Ab 1928 war Arnheim als Mitarbeiter Carl von Ossietzkys fiir den Kulturteil der legendären „Weltbühne“ verantwortlich. Seine zahlreichen Feuilletons, Literatur-, Kunst- und Filmkritiken (eine Auswahl erschien 1985 unter dem Titel „Zwischenrufe“ in der DDR) vermitteln in ihrer „Mischung aus kultivierter jüdischer Intellektualität und Berliner Schnauzen-Chuzpe“ (Ute Stempel) viel vom Flair der zwanziger Jahre. Deren epochale Kultur-Ereignisse hat er vielfach persönlich erlebt und schreibend kommentiert: so etwa die Dreharbeiten zum „Blauen Engel“, Tanzaufführungen Gret Paluccas, ein Gespräch mit S. Eisenstein auf dem Riickweg von Mexiko, friihe Ausstellungen von Bauhaus-Kunst, Kandinsky, Grosz. Rudolf Arnheim gehört mit zu den wichtigen Feuilletonisten der Weimarer Republik, ist Tucholsky und Polgar, die er persönlich kannte, vergleichbar. 1932 veröffentlichte Arnheim bei Rowohlt sein noch immer gültiges Standardwerk „Film als Kunst“, eine anhand des Stummfilms entwickelte Theorie der visuellen Ausdrucksmittel des Films. Damit wurde er neben Kracauer und Baläzs einer der Begründer der Filmwissenschaft. Die Nazis verboten „Film als Kunst“ 1933 ebenso wie die „Weltbühne“. So emigrierte Arnheim nach Rom, wo er am Internationalen Lehrfilminstitut des Völkerbundes sowie als Redakteur der Zeitschrift „Ci30 nema“ arbeitete und den Neorealismus im italienischen Film theoretisch mit vorbereitete. Als Mussolini 1938 nach dem Vorbild Hitlers antisemitische Gesetze erließ, mußte Arnheim nach London emigrieren. Dort betätigte er sich als Übersetzer beim deutschsprachigen Dienst der BBC. 1940 schließlich erhielt er ein Visum für die USA und schlug dort eine wissenschaftliche Karriere mit Professuren an der vard und Columbia ein. Seitdem entstand sein bedeutendes kunst-theoretisches und kunst-psychologisches (Euvre mit wegweisenden Werken wie „Kunst und Sehen“ (1965), „Anschauliches Denken“ (1972) oder „Die Macht der Mitte“ (1983), die ihn als einen der interessantesten, innovativsten Kunstwissenschaftler des 20. Jahrhunderts ausweisen. Arnheim befaßt sich mit Themen wie die „Intelligenz des Sehens“, die Bedeutung des Anschaulichen in allen Denkvorgängen, künstlerisches Arbeiten als „Denken mit den Sinnen“, Abstraktion als elementares Begreifen von Wesentlichem, der Primat des Ganzen vor den Teilen einer Komposition, die grundsätzliche Raumhaftigkeit von Bildern. Einer seiner Kernsätze lautet: „Was man erdenkt, ist untrennbar von dem, was man erschaut." Die Weite seines Denkens und Vielseitigkeit seines Schaffens sind beeindruckend — außer zu Film und Kunst hat Arnheim Arbeiten über Rundfunk, Musik, Tanz, Architektur, Fotografie, Medientheorie, ja sogar Aphorismen und den Roman „Eine verkehrte Welt“ veröffentlicht. Der zwischen 1936 und 1940 — vor Orwell und Koestler — im Exil geschriebene, erst 1997 publizierte Roman ist eine satirisch-phantastische, zeit- und zivilisationskritische, politisch hellsichtige Parabel über den Totalitarismus und seine Phänomene wie Überwachung, Gleichmacherei, Massensuggestion, Bürokratieallmacht u.ä. Trotz Originalität und Aktualität seines Schaffens ist Arnheim im deutschsprachigen Raum nicht so präsent, wie er es verdiente. Lediglich seine kunstwissenschaftlichen Texte und der Roman „Eine verkehrte Welt“ sind derzeit im Buchhandel greifbar. Manches, was er zunächst auf Englisch schrieb, ist noch unübersetzt. In den USA dagegen gibt es eine intensive Arnheim-Rezeption — der jüdische Architekt Daniel Liebeskind z.B. hat sehr positiv über Arnheim geschrieben. In Italien und Frankreich liegen fast alle seine Werke in renommierten Verlagen vor, ja selbst auf Japanisch, Russisch oder Koreanisch sind manche Titel von ihm erschienen. Bleibt anläßlich seines 95. Geburtstages, den Rudolf Arnheim am 15. Juli bei ungebrochener Schaffenskraft in den USA beging, zu hoffen, daß endlich auch im Land seiner Geburt, aus dem er 1933 so schändlich vertrieben wurde, eine umfassendere Auseinandersetzung mit seinem facettenreichen Lebenswerk einsetzt. Immerhin hat die Stadt Düsseldorf Arnheim den diesjährigen Helmut-Käutner-Preis verliehen —- an der Preisübergabe am 10. September hat er allerdings persönlich nicht teilnehmen können.