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bemühten. Es war nicht ihre Schuld, aber ihnen fehlte eine Arbeiterklasse, die ihrer Revolution das nötige Fundament gab.“ (Dorfman verwendet das Wort Arbeiterklasse zögernd, im Wissen um den Schindluder, der mit diesem Begriff in allen drei Welten getrieben wurde.) De dönde eres? Woher kommst du, wohin gehörst du? Diese Kernfrage, die immer auch die Frage nach der zugehörigen Sprache ist, verfolgt Dorfman noch während des Aufenthalts in Berkeley: Eines Abends setzt sich der Autor an den Schreibtisch, um an einer Kurzgeschichte weiterzuarbeiten. Und mitten in einem Satz, den er auf englisch begonnen hat, entscheidet er sich „für die Sprache, die mich mit einer Gemeinschaft verband, die nach einer anderen Geschichte für sich und mich suchte. Ich beschloß, ein Grenzgänger zu werden. Ich sagte mir und jedem, der es hören wollte, daß ich nie wieder ein Wort in Englisch schreiben würde.“ Das Buch freilich, in dem er diese Entscheidung mitteilt, ist auf englisch geschrieben. Das bedeutet nicht, daß Dorfman seinen Entschluß heute verurteilt - er erkennt an, daß es damals wichtig war, „eindeutig und mit einer Stimme“ — auf spanisch — zu sprechen. Aber inzwischen hat er gelernt, sich als der anzunehmen, der er ist, als „eine Mischung, teils Yankee, teils Chilene, ein Quentchen Jude, ein Mestize auf der Suche nach seiner Mitte“. Der Spannung, die seinem Leben innewohnt, trägt Dorfman auch dadurch Rechnung, daß er es, chronologisch versetzt, in zwei Strängen erzählt. Der eine ist der „Entdeckung des Todes“ gewidmet, der andere der „Entdeckung des Lebens“. Dieser erstreckt sich von den ersten Lebensjahren bis zum blutigen Staatsstreich in Chile, jener umfaßt die Zeit von September bis November 1973, die Erfahrung von Ohnmacht, Angst, Verfolgung. Er weigert sich, als Flüchtling, als Opfer von Pinochets Terrorregime anerkannt zu werden; „indem ich den passiven Begriff ablehnte und mich für den aktiveren, stilvolleren, eleganteren Begriff des Exilanten entschied, entwarf ich meine Odyssee als ein Unternehmen, das in mir selbst seinen Ursprung hatte und nicht in historischen Kräften außerhalb meines Einflußbereichs“. „Kurs nach Süden, Blick nach Norden“ ist ein stolzes und zugleich demütiges Buch. Es spricht beharrlich von dem, der es schreibt, folgt ihm in alle Verästelungen seiner Gedanken und Gefühle und erliegt doch nie der Versuchung, der Eitelkeit Rosen zu streuen. Es ist eine große Hommage an jene Menschen, die Allendes Projekt, den Sozialismus zu verwirklichen, ohne die Demokratie zu verraten, mitgetragen haben, es evoziert deren ungeheure Anstrengung und Begeisterung, es benennt die Feinde, die Mörder, die Drahtzieher. Dorfman unterläßt es auch nicht, die eigenen Fehler einzugestehen, das Scheitern im Bemühen, die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung für die Politik der Unidad Popular zu gewinnen. Da ist die Einsicht, „daß wir nicht demokratisch genug waren, daß wir die Revolution über das vernünftige Maß hinaus vorangetrieben hatten. Wir boten ihnen keine andere Alternative, als sich uns anzuschließen oder für immer zu verschwinden.“ Als Dorfman unter dem Schutz des argentinischen Botschafters im November 1973 Chile verläßt, läßt er ein Land zurück, das sich in den Jahren seiner Abwesenheit zur Unkenntlichkeit verändern wird. Die Gesichter der Menschen sind unter einer Maske der Gleichgültigkeit begraben, die allmählich, in den langen Jahren der Diktatur und des kontrollierten Übergangs zu einer nicht minder maskierten Demokratie, mit der Haut verschmilzt. „Pinochet bereitete eine Welt vor, die wir heute, über zwanzig Jahre später, vor uns haben, eine Welt, in der das Wort Revolution in Werbeanzeigen für Joggingschuhe verbannt wurde, in der Raffgier als positiv gilt, Gewinn das einzige Kriterium für Werturteile ist und Zynismus die vorherrschende Haltung, eine Welt, in der man die Amnesie als Lösung für die Schmerzen der Vergangenheit anpreist und rechtfertigt.“ Vor ein paar Monaten hat der spanische Schriftsteller Eduardo Mendoza von einer Krise des zeitgenössischen Romans gesprochen und den Grund hierfür außerhalb der Literatur geortet: Er behauptete, daß in der Gegenwart epische Situationen fehlten, anders gesagt, gewaltige historische Ereignisse, die Fragen universaler Tragweite aufwerfen. Diese Tatsache würde ihm zufolge auch erklären, warum die Brennpunkte literarischen Interesses in den letzten Jahrzehnten an die Peripherie der sogenannten westlichen Kultur gerückt seien, nach Lateinamerika und Indien beispielsweise. Auf den ersten Blick wirkt Mendozas Behauptung paradox - seit gut zehn Jahren läßt sich, in Europa, schwerlich die „Abwesenheit eines kollektiven Traumas und die relative Vorhersehbarkeit der individuellen Schicksale“ beobachten, die laut Mendoza den schöpferischen Höhenflug hemmen. Der Krieg in Jugoslawien und die Zerstörung der russischen Gesellschaft erscheinen als Auftakt zu einem Dritten Weltkrieg, der — zynisch gesprochen — Romanen epische Perspektiven eröffnete (sofern dann noch Menschen sind, die sie nützen). In einem Punkt jedoch trifft Mendozas Diagnose zu: All diese Konflikte bergen nicht das, was er mit „universaler Gültigkeit“ meint - das Verlangen nach Gerechtigkeit für alle, nach Befreiung aus Armut und Unwissen, nach einer Gemeinschaft von Freien. Wir bedauern die Opfer, wir verfluchen die Täter. Aber die Kriege der Neuen Weltordnung kennen keine Ideale, für die es sich zu kämpfen lohnt. Ihnen fehlt die Anziehungskraft, die revolutionäre Bewegungen — ungeachtet ihrer Irrtümer, ungeachtet ihres Scheiterns — bis heute bewahrt haben. Deshalb sind die Spanische Republik, die kubanische Revolution, der Prager Frühling und Chiles Unidad Popular auch gegenwärtiger geblieben als der gegenwärtige Krieg am Balkan, angesichts dessen wir uns, wie der Esel in der Fabel, zwischen zwei Heubüscheln entscheiden sollen und aus Ratlosigkeit lieber verhungern. Dorfmans Erinnerungen erinnern uns daran, daß es etwas gibt, wofür es sich lohnt zu unterliegen. Erich Hackl Ariel Dorfman: Kurs nach Süden, Blick nach Norden. Leben zwischen zwei Welten. Aus dem Amerikanischen von Gabriele Gockel, Barbara Reitz und Maria Zyback. München: Europa Verlag 1999. 384 S. OS 336,-/DM 46,-/SFr 42,50 Schutz durch Scheinehe Für ein von der breiten Öffentlichkeit selten oder in Einzelfällen gar nur „unter dem Siegel der Verschwiegenheit‘ debattiertes Phänomen jüngerer Zeitgeschichte — dem ,,Trauschein als Lebensretter“ — wirbt hier ein Buch um verständnisvolle Aufmerksamkeit: Von prominenten Schutzehen in den Jahren 1933-45 bis zu aktuellen Pro-forma-Ehen zur Sicherung des Bleiberechts werden konsequent aus Frauensicht Einzelschicksale zu einer überraschend und facettenreichen aktuellen Lektüre verknüpft. Durch mehrere biografische Bücher zur Geschichte der Arbeiter- und Frauenbewegung sowie des Widerstandskampfes 1933-45, u. a. „Johanna Kirchner, eine Frau des Widerstandes“ (1985) und „Die drei Exile des Erich Lewinsky“ (1995), ist die Bonner Autorin geradezu prädestiniert für diese Thematik. Und in ihrem vorausgegangenen Buch „Heldentöchter“ (1997) stellt sie in 12 Gesprächsprotokollen Töchter von aktiven Widerstandskämpferinnen vor. Sie versucht damit die Frage zu beantworten, welche Konsequenzen das politische Engagement der Eltern und deren Verfolgung im Nazi-Staat oder das Leben im Exil auf die jeweilige Familie und besonders auf die Kinder hatten. Während der Gespräche mit einer der Töchter über die zunächst als Scheinehe geplante Verbindung ihrer Eltern wurde Antje Dertinger derart von diesen Schicksalen fasziniert, daß sie endgültig über die von ihr schon längere Zeit recherchierte heikle Problematik zu schreiben beschloß und diesen „Fall“ zum Schwerpunkt ihres Buches machte: Rettung vor der Auslieferung an die Gestapo durch eine Schutzehe suchte die unter dem Pseudonym Ruth Werner und besonders durch ihre Autobiografie „Sonjas Report“ bekannt gewordene ehemalige Kundschafterin bzw. Spionin der „Roten Kapelle“ Ursula Kuczynski — und fand eine bis ans Lebensende währende echte Liebesbeziehung. Im Gegensatz dazu standen aber die Hochzeiten allein zum Schutz vieler, auch prominenter Nazi-Verfolgter im Exil — darunter Therese Giehse, Anne Siemsen, die Historikerin Susanne Miller. Und im Rückblick: Rosa Luxemburg kam ebenfalls nur durch eine Scheinheirat 1898 einigermaßen komplikationslos als Rosalia Lübeck von Zürich nach Deutschland. 47