OCR
Wie viele andere sehe es auch ich deshalb als meine Pflicht an, gegen diese Regierung, die in ihr vertretenen Parteien und die Inhalte, für die sie stehen, deutlich Stellung zu beziehen. Und dabei genügt es nicht, wenn man nur jene als Adressaten wählt, deren Zustimmung man ohnehin gewiß sein kann. Als mir letztes Jahr die Möglichkeit geboten wurde, in einer Berufsschule aus meinen Texten vorzulesen, hatte ich nach der anschließenden Diskussion zumindest die Hoffnung, bei einigen, die bislang an die „ordentliche Beschäftigungspolitik“ der Nazis geglaubt hatten, einen Nachdenkprozeß bewirkt zu haben. Wahrscheinlich überschätze ich meine Möglichkeiten. Vielleicht brauche ich das auch, um nach vielen Jahren des Schweigens und Wartens gegen jene aufzutreten, die dafür verantwortlich sind, daß ich (wie viele andere auch) mich wieder fremd fühle in diesem Land. Ich war lange genug Emigrant! Ich will nicht mehr. Vladimir Vertlib wurde am 24. Februar 2000 der österreichische Förderungspreis für Literatur für 1999 verliehen. Der Preis wurde in wohltuender Abwesenheit von Repräsentanten der gegenwärtigen Bundesregierung durch Dr. Wolfgang Unger von der Kunstsektion des Bundeskanzleramtes übergeben; die Laudatio hielt Konstantin Kaiser. Wir werden bei nächster Gelegenheit die nicht uninteressanten Ausführungen Ungers und Kaisers dokumentieren. Anmerkungen „Schweigen und warten?“ ist die leicht modifizierte Langfassung eines Textes, den Vladimir Vertlib am 11.2. 2000 im Rahmen einer Protestaktion gegen die schwarzblaue Regierung im Salzburger Stadtkino vorgelesen hat. 1 Hans-Henning Scharsach: Haiders Kampf. Wien: Orac Verlag 1992. S. 99. : 2 Salzburgs FP-Vizebiirgermeister Siegfried Mitterdorfer in den „Salzburger Nachrichten“ vom 12.2. 2000. Das Exil wird im österreichischen wissenschaftlichen Diskurs bis heute nur sehr partiell wahrgenommen. Große Namen wie Erich Fried, Elias Canetti, Hilde Spiel oder Man&s Sperber werden zwar immer wieder genannt und rezipiert. Aber die vielen weniger prominenten Namen und Schicksale bleiben unerwähnt und weitgehend unerforscht. Die beiden einzigen Institutionen, die Exilliteratur systematisch sammeln, die Bibliothek des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und die Exilbibliothek im Literaturhaus, können aufgrund ihrer späten Anfänge (1963 bzw. 1993) keinen Vollständigkeitsanspruch erheben, so wichtig ihre Arbeit auch ist. Pionierarbeiten für die spätere Forschung entstehen, mühsam finanziert, aufgrund von Einzelinitiativen, wie das Lexikon der österreichischen Exilliteratur von Konstantin Kaiser und Siglinde Bolbecher oder die Arbeiten des von Primavera Gruber geleiteten Orpheus Trust zur Erforschung von Leben und Werk der exillierten österreichischen Musiker. Mit der Erforschung des wissenschaftlichen Exils wurde nach ersten, wichtigen Anfängen von Friedrich Stadler noch nicht einmal richtig begonnen. Die UniversitätswissenschaftlerInnen interessieren sich mit der Ausnahme einiger weniger KollegInnen der Publizistik- und Kommunikationswissenschaften und der Germanistik nicht für die Erforschung des österreichischen Exils. Die Theodor Kramer Gesellschaft und der österreichische P.E.N.-Club planen deshalb auf Initiative von Evelyn Adunka im Herbst 2000 eine Tagung mit dem Arbeitstitel „Das Bild und die Rezeption des Exils in Österreich“, die sowohl eine Bestandsaufnahme zum Ziel hat, als auch Desiderata aufzeigen soll. Die Leser der MdZ werden um Anregungen und Vorschläge gebeten. Das Kolloquium „Antisemitismus und österreichische Literatur“, das am 24.2. 2000 im Republikanischen Club (Wien) stattfand, setzte sich bereits mit für die Rezeption des Exils in Österreich zentralen Fragen auseinander. (Veranstalter war der Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur in Zusammenarbeit mit der Theodor Kramer Gesellschaft und dem Republikanischen Club; es sprachen Gerhard Scheit, Konstantin Kaiser, Doron Rabinovici, Vladimir Vertlib, Evelyn Adunka; Moderation: Erna Wipplinger.) Anlaß des Kolloquiums war das Erscheinen von Gerhard Scheits Buch „Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus“ (Freiburg 1999), dem es nicht so sehr darum zu tun ist, ein Instrumentarium zur Erkennung antisemitischer Umtriebe in der Literatur zu entwickeln, als darum, die Darstellung des Antisemitismus in der Literatur und vor allem auf der Bühne in ihren geschichtlichen Kontinuitäten und Brüchen zu thematisieren — nicht nur im Sinne antisemitische Propaganda, sondern auch als Chance zur ästhetischen Reflexion. Dabei widmet Scheit auch der österreichischen Nachkriegsliteratur (Ingeborg Bachmann, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek u. a.) einige erste Überlegungen. Das Kolloquium erbrachte eine Fülle von Hinweisen und Anregungen, ist ein Anfang. Die prinzipielle ‚Unschuld‘ der neoavantgardistischen Kunst der Nachkriegsperiode (unter Berufung auf die Verfolgung der „entarteten Kunst“ durch den Nationalsozialismus in Anspruch genommen) wurde ebenso in Frage gestellt wie gewisse Formen des „Philosemitismus“ in der darstellenden Kunst. (Beispiel: Österreichische Schauspieler, die auch in der NS-Zeit immer ‚beschäftigt‘ waren, versammeln sich in einer Joseph Roth-Verfilmung zu einem jüdischen Ostermahl in New York - alle sind sie ja ganz große Fachleute darin, Juden zu spielen.) Die von Konstantin Kaiser vorgetragene These eines „gleichsam strukturellen Antisemitismus der postfaschistischen Gesellschaft“ zielt auf die passive bis zustimmende Hinnahme der Resultate der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in der Nachkriegsperiode und die damit einhergehende ‚Entlastung‘ der Antisemiten: der Antisemitismus ist gleichsam an die vorgefundenen Bedingungen delegiert und bedarf, um wirksam zu sein, nicht der persönlichen Stellungnahme. Somit wird prekär, was nicht in den literarischen Texten jener Zeit steht.