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Ich möchte an Harrys Angst erinnern. Sie steckt in einem ungeschriebenen Buch, dessen Titel er bei Rosa Jochmann ausgeborgt hat: „Es lohnt sich doch, Widerstand zu leisten.“ Das Buch sollte auf Harrys Erfahrungen bei seiner lebenslangen Arbeit mit Menschen gründen; es war von ihm als Ermunterung gedacht, für seine Freunde und Freundinnen, „die schon vielfach resignierten Revolutionäre: Das wird man in dieser Zeit brauchen, in der kommenden, so mein ich das.‘ Aber er wollte es auch für sich selbst fertigbringen, als Entree fürs Jenseits, auch wenn er überzeugt war, ohnehin keine Zeit zum Sterben zu haben. Trotzdem, manchmal dachte er an das Revolutionäre Jüngste Gericht, nicht ohne Neugierde, wie es denn beschaffen sein werde, und dort hätte er, als Gedächtnisstütze und zur Rechtfertigung seines neunundachtzigjährigen Lebens, dieses ungeschriebene Buch ganz gern dabeigehabt. Leider ist es nicht weit gediehen. Was vorliegt, sind zwölf Tonbandkassetten, auf denen er vom Hundertsten ins Tausendste springt, bis sich seine Erinnerungen in einem Netz, nein: in einem Knäuel von Lebensfäden verfangen. Während ich sie abhöre, die frohe leise Stimme im Ohr, sehe ich ihn vor mir, das feine Lächeln, den etwas schwankenden Gang in den schnellen Sportschuhen, die weißen Haarsträhnen, die ihm zu Berge stehen. So, denke ich, wird Harry auch vor das Revolutionäre Jüngste Gericht treten, dessen Vorsitzenden oder deren Vorsitzende ich mir als eine Mischung aus Dorothee Sölle und Friedl Fürnberg vorstelle und wo es ähnlich gesittet zugeht wie bei einer Vollversammlung des WUK. Und wieder wird hinter allem, was aus ihm raussprudelt und was er aus dem Vorsitzenden wie aus den Beisitzerinnen heraushorcht — denn er war ein Meister darin, redend zuzuhören -, die Angst auftauchen, die auch sein ungeschriebenes Buch prägt. Angst, die sich seiner Überzeugung nach nicht wegmachen, nur umwandeln läßt, ins Gegenteil verkehren, mittels Kühnheit, mittels Chuzpe, mittels Fatalismus, der nichts anderes ist als die Ergebenheit zu einer für wahr erachteten Sache — das, was Harry Mut nannte und Vaclav Havel Gewißheit: „die Gewißheit, daß etwas Sinn hat, ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht“. Aber nicht immer ist es Harry gelungen, die Angst umzulenken - manchmal ließen die Umstände nur das Verdrängen zu, das Herumschwindeln also, im Spanischen Bürgerkrieg zum Beispiel, und dann suchten ihn die Ängste sechzig Jahre später im Traum heim. „Ich wach oft auf mit schrecklicher Paranoia, die ganz konkret in den Träumen sitzt und noch nachwirkt beim Aufwachen, vielleicht nicht länger als eine halbe Sekunde, aber das ist ja lang. Angst, wenn ich verfolgt werde und mich mit einem Aufschrei selber wecke. Das geht bis zum Abmurksen, nur daß ich halt den Stich nicht mehr spüre.“ Harrys politisches Erwachen kannte keine Urangst, nur viele kleine Erfahrungen, die ihn der Bürgerwelt entfremdeten: das Geburtstagsfest seines älteren Bruders, bei dem dieser die Geschenke verweigert, weil die Maurer und Zimmerleute nicht zur Jause geladen sind; der Herr Toibler, das Faktotum aus dem väterlichen Betrieb, der Harrys Mutter halb unterwürfig, halb dreist mit dem Satz begrüßt: „Guten Tag, gnädige Frau, entschuldigen Sie bitte, daß ich lebe“; der Tag, an dem der fünfjährige Harry als Streikbrecher im Geschäft Kuverts sortiert, und sein Onkel ist zur Aufregung der Familie unter den Streikenden; der Fünfzehn- oder Sechzehnjährige, der Kautsky liest, und sein Vater sieht es und sagt: Was machen die Arbeiter schon ohne einen wie mich, der ihnen seinen Unternehmungsgeist zur Verfügung stellt, und Harry antwortet — „ganz nett hab ich es gesagt, ich hab sogar Vati gesagt“ -: Vati, was machst du ohne die Arbeiter? „Und es hat ihn nicht weiter aufgeregt, er hat nur gesagt, dummer Bua.“ (Ein dummer Bua, meint Harry, ist einer, der es wagt, einem Erwachsenen, „ich möchte fast sagen: soziologische Antworten zu geben‘“.) Während die politische Entwicklung also allmählich nach links verlief, auch organisatorisch gesehen: von den Pfadfindern hinüber zum Sozialistischen Wanderbund, und dann weiter zu den Kommunisten, gab es auf religiösem Gebiet ein einschneidendes Erlebnis, ein Urmißvertrauen, wie es Harry nannte, „man spricht sonst immer vom Urvertrauen“. Nämlich: als er drei oder vier Jahre alt war, hielt ihn seine Mutter an, jeden Abend vor dem Einschlafen ein Gebet zu sprechen. Du darfst es nicht vergessen, denn Gott sieht alles, hört alles und weiß alles. Aber wenn du vergißt, wird er dich bestrafen! Harry hielt sich an das Gebot; aber eines Abends vergaß er auf das Beten und wartete vergeblich auf die Strafe, und am nächsten Abend betete er justament nicht, und auch nicht am dritten, und von da an mißtraute er seiner Mutter und ängstigte sich nicht mehr vor Gott. Angst, Todesangst hatte Harry bei seinem ersten Einsatz in Spanien, 1937, beim Sturm auf Quinto. Vom Kirchturm aus wurden die Angreifer mit einem Maschinengewehr beschossen, erste Verwundete lagen herum, Krankenträger hasteten gebückt durchs Gelände, die Artillerie schoß aus Versehen in die eigenen Reihen, Nebel kam auf, und Harry verlor die Orientierung. Er wollte zurückgehen, nur zurück, wußte aber nicht, welche Richtung er einschlagen sollte. Gerade in dem Augenblick, als in ihm der Drang zu desertieren übermächtig wurde, hörte er — wie in einem pathetischen sowjetischen Film - die Internationale, allerdings auf englisch gesungen, und aus dem Nebel tauchten schemenhaft die Männer der Lincoln-Brigade auf und stürmten nach vor, nahmen Quinto ein, und hinter ihrem Tank her, stolpernd, Harry als erster Österreicher. Und er wurde befördert. „In Anerkennung, daß ich gestürmt hab. Dabei war das keine Heldenleistung, sondern Glück, revolutionäres Glück. Und dann war ich eben Politkommissar.“ Angst war auch im Spiel, als Harry zusammen mit den anderen Internationalen den Ebro überquerte. „Da sind wir zuerst in der Früh, ganz zeitig, auf unserer Seite noch in Zweierreihen gegangen, und es sind verirrte Kugeln gekommen, nicht gezielt, dafür waren die Schützen zu weit weg. Und ich war an der Frontseite. Und neben mir ist einer gegangen, der keine Funktion innehatte, ich damals ja auch noch nicht. Aber ich bin mir wichtiger vorgekommen, und Todesangst war auch dabei, daß mich so eine Kugel trifft. Und ich hab versucht, mit ihm Platz zu tauschen. Da hab ich lang dran gekiefelt, an dieser politisch unmoralischen Handlung.“ Oder, immer noch Spanien, die Angst beim Wacheschie7