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ben. Man kennt die Berichte von nächtlichen Überfällen, lautlose feindliche Vortrupps, die einem blitzschnell die Gurgel durchschneiden. Das sind so Situationen, meint Harry, die es kaum erlauben, die Angst umzuspeichern oder gar umzuwandeln. „Ich hab sie nur verdrängt, und ich weiß auch noch, wie ich sie verdrängt hab.‘ Erstens einmal hat er sie niemandem eingestanden, auch sich selbst nicht. Zweitens hat er jedes Geräusch studiert, das Schreien der Käuzchen, das Singen der Grillen, das Rauschen der Blätter. Er hat sozusagen alles, was ihm Angst machte, sachlich wahrgenommen, als hätte es nichts mit ihm und mit seiner Gefährdung zu tun. „Ich hab gelernt, das so zu verdrängen, daß ich sogar lachen konnte, lachen über meine Angst.“ Aber verdrängen ist, wie gesagt, die schlechte, die hastige Lösung. Besser, man nutzt jede Gelegenheit, die Angst mittels Ergebenheit zu einer Sache umzusetzen. Schon in der Schule war das möglich, wo Harry, der nie ein Raufer war, „immer ganz große Richtungen angeführt hat, die Jakobiner gegen die Royalisten“. Oder später im Gefangenenhaus, wenn ein wildgewordener Aufseher jemanden niedergeprügelt hat und Harry gebrüllt hat: Aufhören zu schlagen!, und manchmal hat es geholfen, erstens die Angst umzuwandeln und zweitens dem Schlagenden in den Arm zu fallen, indirekt: weil dem durch Harrys Brüllen klar wurde, daß es einen Mitwisser gab. Oder noch später, in der Zweiten Republik, wenn Harry bei den Demonstrationen ganz vorne dabei war: aus reiner Angst, wie er sagt, und in der ersten Linie konnte er wenigstens mit den Polizisten reden, anfangs wenigstens, daß er sie nicht um ihren Dienst beneide usw., und später wegen der Provokateure, damit er sie in den Schwitzkasten nehmen konnte, bevor sie eine friedliche Demonstration kaputt machten. „Ist auch eine Form der Angst, die vor einem Provokateur.“ Im besetzten Frankreich, im illegalen Widerstand, war die Angst permanent. Und wie immer hat Harry versucht, sie frontal anzugehen. Zum Beispiel, als er in Lyon in den Zug stieg, mit einer Fahrkahrte nach Marseille, einem ungeschickt gefälschten Ausweis und 1.500 Francs in der Tasche: „Da hab ich mich zum Beispiel nicht getraut, in einen normalen Waggon einzusteigen. Ich hab mir einen gesucht, in dem nur Deutsche drinnen waren, aus Angst, daß es auf französisch nicht ohne weiteres klappen wird und daß die Kontrolleure meinen Ausweis genau anschauen.“ Also hat sich Harry zu deutschen Offizieren gesetzt und mit ihnen gebrochen deutsch gesprochen, und kein Schaffner hat sich ins Abteil getraut. „Auch da wieder meine Überlegung: immer an die Front, das ist weniger gefährlich, nämlich an die leichtere Front. Die härtere Front, das waren damals die Franzosen.“ Harry war stolz auf seine praktischen Erfindungen. Seine größte Erfindung war schon erfunden, er hat sie nur richtig eingesetzt, drüben im Saal der Psychopannenhilfe: der Tischtennistisch, der zwar niemanden von seiner Schwermut geheilt, aber für die Dauer des Spiels immerhin befreit hat. Harry hat einmal nachgerechnet bei einer schwer depressiven Frau, daß sie in den drei oder vier Jahren bei der Pannenhilfe 950 Stunden lang Tischtennis gespielt hat; „und in dieser Zeit war sie nicht depressiv“. Die zweite Erfindung war ein Verkohlungsofen, den Harry irgendwo in den Pyrenäen konstruiert hat, wo er zuerst als Holzfäller und dann als Köhler tätig war. Auch die dritte Erfindung fällt in die Jahre der Resistance; mit ihr überwand er die Angst zu verschlafen, wenn morgens Punkt fünf unter einer Rhöne-Brücke Losungen gegen die Nazis gemalt oder über eine Kasernenmauer Flugzettel geworfen werden sollten. „Meine Angst bestand nicht nur darin, daß dann die an8 deren, die Pünktlichen, in Gefahr geraten, denn wenn man zu dritt ist, ist die Gefahr geringer, weil die Deutschen ja nicht allen dreien nachschießen können; Angst hatte ich auch davor, gegen die revolutionäre Linie zu verstoßen, zu versagen.“ Harrys Erfindung war, daß er am Abend vor einem solchen Einsatz nicht mehr pinkeln ging. „Da ist in der Früh der Drang so stark, daß man sicher wach wird.“ Weil Harrys Gedächtnis bei der Frage nach Jahreszahlen oder Zeitspannen verläßlich versagte — „da muß ich die Irene fragen“, hieß es, oder: „die Vera weiß das“ -, bin ich im Unklaren, wie lange Harry in Marseille in der Bauaufsicht der deutschen Kriegsmarine gearbeitet hat. Jedenfalls war er, unter anderem auch wieder aus Angst, gleichsam zu hoch gefallen. Offiziell hieß er Henri Verdier, stammte aus einer Gemeinde irgendwo in Nordfrankreich, deren Amtshaus samt Unterlagen in Schutt und Asche gebombt worden war, und hatte eine Wiener Mutter. Damit erklärte er seine — allerdings bewußt dürftig gehaltenen — Deutschkenntnisse. Aber er hatte Angst. Angst, daß seine wahre Identität bekannt werde. Angst vor Arbeitskollegen, die ihm seinen Posten neideten. Angst davor, unwillkürlich zu gut deutsch zu sprechen. „Die Deutschen haben gesagt, ich bin ein Phänomen, ich hab in sechs Monaten perfekt deutsch gelernt. Na, schon mit Accent.“ Und dann hatte es ein französischer Kollaborateur — irgendein höheres Vieh in der Hauptbuchhaltung — auf ihn abgesehen. Da bekam es Harry wieder mit der Angst zu tun. Er überlegte einige Nächte lang, ehe er zu einer kleinen Offensive überging und dem andern Angst einjagte. „Die eigene Angst ist nie gut. Besser die fremde Angst.“ Und Harry schritt in der Buchhaltung auf und ab, scheinbar in Gedanken verloren, und murmelte kopfschüttelnd: Eigenartig, gibt es hier Kollegen, die nicht wissen, daß deutsche Dienststellen überwacht werden. „Dann hab ich mich wieder an meinen Tisch gesetzt. Da habens Angst gehabt, daß ich von der Gestapo bin. Das hat hingehaut. Aber dann kam schon die nächste Angst auf mich zu.“ “Eine, die offenbar nie Angst hatte, oder die, genauer gesagt, Angst nicht mittels Ergebenheit zu einer Sache umzuwandeln brauchte, ist Irene. Sie war, als amerikanische Krankenschwester, mit dem ersten Service Sanitaire nach Spanien gekommen und arbeitete im Krankenhaus von Matarö. „Die erste Begegnung war nicht Liebe auf den ersten Blick, sondern Streit auf den ersten Blick.“ Das war, als Harry, der in Gandesa verwundet worden war, mit seinem Freund, einem aus dem Bataillon Garibaldi, in einem groBen Saal lag, nur noch sie beide, und „dann kommt so eine Krankenpflegerin in weiß, schaut nicht nach links und nach rechts, tut da mit ‚muchou‘ und ‚pouco‘ herum und holt mir den Freund weg“. Harry hielt ihr in seinem Schulenglisch sofort einen großen politischen Vortrag — „aber sie hat mir nicht einmal zugehört, hat einfach ihre Arbeit getan“. Die beiden heirateten noch in Matarö, wo Irene weiter ihren Dienst verrichtete, als die Francotruppen und die italienischen Faschisten schon um: das Spital kreisten und die tapfersten Offiziere in Panik davonliefen oder hüpften, auf einem Bein oder auf Krücken, während sie, unerschütterlich, die Schwerverletzten versorgte und Spritzen aufzog, um notfalls Sterbehilfe zu geben, „denn was sie mit den Internationalen gemacht haben, speziell mit ihnen, das weiß man ja“. Irene hätte, auch später noch, in Frankreich, zurück in die USA fahren können, aber sie ist einfach nicht gefahren. Sie blieb bei Harry, und als er dann von einem Lager ins nächste geschafft wurde und keine Gelegenheit fand, ihr eine Nachricht zukommen zu lassen, gelang es ihr immer wieder, ihn zu finden. Monsieur