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Spiegel, hieß es, oder, in der Normandie, wo die Briten das Prestataire-Lager verwalteten: Mr. Speigel! Mr. Speigel! Mrs. Speigel wants to talk with you. Und da stand sie wieder vor ihm. „Das nenn ich eine echte Liebe, eine Bindung, die kannst du nicht zerreißen, und die Jahre in Spanien und in Frankreich — die gehören einfach ihr, die werden immer ihr gehören. Überhaupt, wenn man manchmal von Heldentaten spricht: sie war die große Heldin.“ Im Lauf der Zeit hat sich Harry vom Atheisten zum Agnostiker gewandelt. Das hat nun nichts mit Angst zu tun — mit der heimlichen Befürchtung, es könnte doch so was wie den strafenden Gott seiner Mutter geben —, schon eher mit seiner Obfrau in der Pannenhilfe, dieser ,,bolschewistischen Theologin“, vor allem aber mit seinem Konzept des Widerstands: Widerstand lohnt sich auch dann, wenn er zur eigenen Lebenszeit keine sichtbare Wirkung zeigt. Jahrelang hatte Harry gehofft, dem Ziel seines Widerstands — der Beseitigung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen - ganz nah zu sein, es zumindest noch zu erleben. „Der Beginn der Resignation kommt mit dem Älterwerden, mit dem Erkennen der Rückschläge, der Konterrevolution.‘“ Dann besteht die Gefahr, daß man anfängt, an gar nichts mehr zu glauben, und sich nur noch dazu aufschwingen kann, als gute Tat den eigenen Körper dem Anatomischen Institut zur Verfügung zu stellen. „Und das hab ich nicht gemacht.“ Ich weiß nicht, ob auch am Jüngsten Gerichtshof Verhandlungspausen üblich sind. Denkbar wäre es, daß der Revolutionäre Senat austreten muß oder der resp. die Vorsitzende ein Nickerchen einlegt, und in so einer Pause, stelle ich mir vor, wird Harry verfluchen, daß er sein Handy nicht dabei hat, denn Vera hatte ihm wie üblich noch ein paar Aufträge mit auf den Weg gegeben, und wie üblich hatte er keine Zeit mehr gehabt, sie sich zu notieren. Überhaupt wird ihm Vera, seine Lebensgefährtin, vor dem Revolutionären Jüngsten Gericht fehlen. Erstens würde sie, wenn er ins Schwadronieren kommt, die i-Punkte setzen, wo sie hingehören, auch wenn sie ihm damit die Pointen versaut. Zweitens würde sie darauf achten, daß er seine Tabletten nicht stundenlang vor sich liegen läßt. Drittens würde sie das letzte Wort haben. Da würde Harry zum Beispiel was sagen, und dann würde sie sagen: Du machst ja eh immer, was du willst. Das würde ihn fürchterlich aufregen. Und dann würde sie sagen: Reg dich nicht auf. Das ist nicht gut für deine Angina pectoris. Jetzt er: Reg dich nicht auf! Da kannst du gleich sagen: Hab keinen gebrochenen Fuß! Und dann würde sie lachen. „Ja“, sagt Harry, „wir sind schon ein lustiges Paarl. Sie hat alles, was ich nicht hab. Sie ist so praktisch. Sie sagt immer, Probleme lösen sich von selbst. Ich dagegen renn jedem Problem hinterher. Sie kann tausend Dinge gleichzeitig tun. Ich kann das nicht. Sie arbeitet mit dem Weitwinkelobjektiv, ich brauch das Tele.“ Nehmen wir an, daß sich das Jüngste Gericht zur Urteilsfindung zurückgezogen hat. Wie es auch ausfällt, Harry wird es anfechten. Er hat schon vorher alle Varianten durchgespielt, und fast keine hat ihn befriedigt: Im Himmel oben ist es ihm zu kalt, in der Hölle zu heiß, und im All will er nicht herumschweben. „Da fallen mir immer die Dreckseelen ein, die können nicht schweben, die zieht es nach unten.“ Auf die Erde, zu uns. Rede, gehalten beim Abend für Harry Spiegel, Werkstättenund Kulturhaus (WUK), Wien, 3.2. 2000. Verstreutes Unter den in Österreich lebenden SchriftstellerInnen finden sich nur wenige, die wie der Innsbrucker Alois Schöpf Jörg Haider als einen „durchaus geschätzten und politisch höchst talentierten“ Herren ansehen, dessen einziger Fehler darin besteht, daß er mitunter seine rhetorische Begabung nicht zu zügeln vermag. Zugleich fordert er in seiner ständigen Kolumne in der „Tiroler Tageszeitung“ (diesenfalls vom 12./13. Februar 2000), „all jene, die sich an der moralischen Selbstfeier begeistern”, auf, „den Zeigefinger einzufahren und die Waffensammlung aus Nazi-, Faschismus- und Rassismusargumenten in den altachtundsechziger Ikea-Selbstbauschrank zurück zu stellen.“ Schöpfs Feindbild ist die „Inquisition der politisch Korrekten”, denen er allein durch die Wortwahl schon die Bereitschaft zu gnadenloser Verfolgung Andersgläubiger, zur Tortur und zum Autodafe unterstellt. Und Alois Schöpf kokettiert mit der Aussicht, selbst schon als ein Andersgläubiger verfolgt zu sein. Von dieser Verfolgung nimmt er sich einen Vorschuß, indem er seinen Angriff auf Andersdenkende als Selbstverteidigung vorträgt — ganz die verfolgende Unschuld, von der Karl Kraus im Jahre 1933 sprach. Hier also wäre der Fels oder Kieselstein Petri, auf den eine freiheitliche Kulturpolitik eine „evaluierte“ Literaturförderung bauen könnte.