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„Die Geschichte Dr. Aschers schien sich fast von selber zu schreiben. Trotz seines immer stärker werdenden Herzleidens, trotz drei Monate Internierung auf der Isle of Man, gelang es ihm, das 1000seitige Werk in knapp zwei Jahren zu beenden, eine für mich fast unglaubliche Leistung. Wäre ich nicht dabei gewesen, hätte Steffel abends meiner Mutter und mir nicht das Geschriebene vorgelesen, würde ich abstreiten, daß es möglich ist, ein Werk, das so genaue Geschichtskenntnisse erfordert, in einem so kurzen Zeitraum zu beenden. Allerdings war es nicht nur möglich, sondern auch dringend notwendig. Kurz nachdem er die letzten Seiten geschrieben hatte, erlag er am 17. November 1942 einem Herzanfall.“ Dies berichtet Pollatscheks Tochter, die Schriftstellerin und Historikerin Gerda Hoffer, die mit ihren Eltern 1939 eine ZuFlucht in England gefunden hatte. Der große Roman des 1890 in Wien geborenen Pollatschek ist bis auf einige wenige Abschnitie, die kurz nach seinem Tod im Londoner Emigrantenblatt „Die Zeitung“ gedruckt wurden, unveröffentlicht geblieben. Jetzt, im Frühjahr 2000, soll das Werk, herausgegeben von Konstantin Kaiser, endlich beim Verlag Mandelbaum in Wien erscheinen. Dr. Ascher, ein Wiener Journalist, ist befreundet mit Eva, der ,halbjiidischen‘ Tochter eines großen Komponisten (Gustav Mahler?) Die Schilderung des Novemberpogroms in Wien entspricht in Stimmung und sozialem Gehalt der von Albert Massiczeck, der als SS-Mann an ihm teilgenommen hat (und uns eines der ganz seltenen Zeugnisse aus dieser Perspektive erstattet hat). Dr. K. ist ein Studienfreund Aschers, ein Rechtsanwalt, der Nationalsozialist geworden ist. 1. Die Befürchtungen, die Doktor Ascher gehegt, sollten sich rascher verwirklichen, als er für möglich gehalten hätte. Der Tag, an dem bekannt wurde, daß der bei dem Pariser Attentat verletzte deutsche Beamte seinen Verwundungen erlegen war, verlief noch ruhig. Erst am Abend dieses Tages, zu einer ganz bestimmten Stunde, setzte die Judenverfolgung ein. Doktor Ascher hatte den Tag planlos in den Waldungen herumstreifend verbracht. Eva wollte durchaus nicht, daß er seine Wohnung aufsuche oder sich in der Stadt blicken lasse. Für den Abend hatten sie eine Vereinbarung auf der einsamen Bank am Waldrand in Hütteldorf. Der Doktor mußte lange warten und war beunruhigt, denn Eva haßte jede Verspätung. Finsternis war schon hereingebrochen - endlich erschien das Mädchen, aufgeregt, außer Atem, das Haar hing ihr in die Stirne. „Die Pessimisten haben immer recht!“ begann sie, statt jeder Begrüßung. Sie ließ sich, sehr ermüdet, auf die Bank fallen, zündete sich eine Zigarette an, und dann berichtete sie: In den späten Nachmittagsstunden sei das Unheil losgebrochen. Zu einer bestimmten Stunde, anscheinend von Berlin aus festgesetzt, habe die deutsche Volksseele befehlsgemäß zu kochen begonnen. Bis dahin wäre in der Stadt alles ruhig gewesen. Obwohl die Todesnachricht schon in den Morgenzeitungen zu lesen war, blieb alles in Ordnung und Ruhe. Erst gegen Abend seien Gruppen junger Leute, antisemitische Hetzrufe ausstoßend, durch die Straßen gezogen, aber die Bevölkerung, an derartige Demonstrationen gewöhnt, habe den Umzügen keine weitere Beachtung geschenkt. Bald wurde aber bekannt, daß das Schauspiel, das nun geboten werden sollte, weit umfangreicher und vergnüglicher zu werden versprach. Eine ungeheure Verhaftungswelle gegen die Judenschaft hatte eingesetzt, man habe die Juden aus ihren Wohnungen geschleppt, in den Straßen verhaftet, viele Tausende, wahllos habe man sie zusammengefangen, halbwüchsige Kinder, Greise, Kranke, Leidende, Halbblinde. Die Gefängnisse seien überfüllt, und alle würden, heiße es, in Konzentrationslager verschickt. Ascher hatte dem in fliegender Eile ausgestoßenen Bericht fast ohne Erregung gelauscht, und er wunderte sich selbst, daß ihn die Schilderung all der Greuel so ruhig ließ. War denn schon alles in ihm erstorben? Er hatte das Unheil vorausgewittert, seine Nerven hatten es ihn ahnen lassen. Eva rauchte hastig und viel, eine Zigarette an der anderen entzündend. Jetzt berichtete sie weiter: Sie habe sich noch in den Abendstunden mit Doktor K. ins Einvernehmen gesetzt; es wäre nicht einfach gewesen, ihn zu erreichen. Er habe ihr versprochen, die Papiere für den Freund noch im Laufe der Nacht zu beschaffen, und sie habe nicht locker gelassen, bis er zusagte, die Dokumente selbst in ihre Wohnung zu bringen. Noch in der Nacht oder spätestens am nächsten Morgen müsse Ascher das Land verlassen. Der Doktor hörte lächelnd zu. Er wußte, daß jeder Widerstand gegen diese Anordnungen nutzlos gewesen wäre. Armin Arm schlugen sie dann den Weg nach Hietzing ein, es war schon tiefe Nacht, als sie die Villa erreichten. Auf Zehenspitzen schlichen sie ins Haus. Eva bereitete Tee. Das warme Getränk tat Ascher wohl, langsam und mit Genuß trank er. Eva hatte einen kleinen Handkoffer herbeigeschafft und verpackte darin etwas Wäsche, die dem Meister gehörte. „Sie können nicht ohne Gepäck fahren, es wäre zu auffallend! sagte sie. „Und Ihr eigenes Gepäck wollen wir lieber nicht holen. Vielleicht sucht man Sie bereits in Ihrer Wohnung!“ Es erwies sich, daß sie an alles gedacht hatte, sogar Reiselektüre lag schon vorbereitet, ein schmaler Band: Briefwechsel eines berühmten lebenden Komponisten mit seinem bereits verstorbenen Textdichter. „Ein langweiliges Buch!“ sagte Eva. „Vater hat es geradezu gehaßt. Mit Recht. Diese Briefe sind unerträglich in ihrer Gespreiztheit und Affektiertheit. Komponist und Dichter haben da Briefe geschrieben, welche nicht für einander bestimmt waren, sondern für die Unsterblichkeit, zumindest für die Periode, die sie als Unsterblichkeit betrachten. Übrigens hat sich dieser Komponist nachher als besonderer Ehrenmann erwiesen. Obwohl er selbst alles den Juden zu verdanken hat — wieviel beispielsweise meinem Vater allein! - obwohl sein Textre 13