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I. Wenige Stunden später begleitete Eva den Doktor zum Bahnhof. Sie hatten den Nachmittagszug gewählt, es blieb noch Zeit bis dahin, sie beschlossen ein Stück Weges zu Fuß zu gehen. Sie schlenderten dahin und Ascher war doch eigentümlich zu Mute. Bei jeder Straßenecke mußte er denken: Werde ich dies je wieder sehen? Hier lebte ich fast fünf Jahrzehnte, hier bin ich groß geworden, hier war meine Heimat, jeden Stein kenne und liebe ich hier — werde ich jemals wieder herkommen? Er verlachte sich aber selber, es war ein schwermütiges Lachen. Eva ging schweigend neben ihm her. Mit einem Mal, sie wußten selber nicht wie das zugegangen war, gerieten sie in ein Menschengewühl. Eva ergriff des Doktors Arm, sie wollte den Freund noch aus der Menge fortziehen, doch es war bereits zu spät. Ungezählte Menschen standen auf der Straße und noch immer drängten sich Neugierige hinzu. Nun erst erkannte Ascher die Situation. Die Leute standen vor einem jüdischen Tempel, oder richtiger: auf der gegenüberliegenden Straßenseite. War es nicht der Tempel, in den er als Gymnasiast zum Jugendgottesdienst gehen mußte? Noch erinnerte er sich des Tages, an dem er hier konfirmiert, in das jüdische Mannestum aufgenommen wurde... Urplötzlich stand alles wieder vor ihm... Er sah sich selber im schwarzen Anzug, zum ersten Mal hatte er lange Hosen an. Er trug einen hohen, steifen, weißen Leinenkragen, der ihn beengte, und er hatte eine fertiggekaufte breite Krawatte umgebunden. Sie war blau mit weißen Punkten. Er saß vorne in der ersten Bank neben dem Vater... Und nun, eben jetzt, wird er zur Thora gerufen. Er hört das Herz bis zum Hals schlagen. Der Vater zieht ihn am Ärmel, man macht ihm Platz, er verläßt die Bank. Traumverloren steigt er die Stufen zum Podium hinauf. Oben weiß er nicht, was er beginnen soll. Er sieht eine Menge Leute, den Vorbeter und den Rabbiner, der zugleich sein Religionslehrer ist. Irgend jemand zieht ihn nach vorne. Jetzt steht er zwischen dem Vorbeter und einem alten Mann mit schmutziggrauem, langen Bart. Man hält ihm die Heilige Schrift entgegen, er soll sie küssen, die Thora. Man muß es ihm zuflüstern. Und dann steht er vor dem Betpult und soll das hebräische Gebet aufsagen. Er hates seit Wochen auswendig gelernt, in der Nacht hatte er es noch tadellos gekonnt, ganz bestimmt. Aber nun kann er sich nicht erinnern, kein Wort fällt ihm ein, er möchte am liebsten vor Schande vergehen. Was wird der Vater da unten sagen, was die Mutter, die auf der Galerie sitzt? Und dann hört er wieder seine eigene Stimme, und sie klingt so seltsam, er erkennt sie und sich selbst gar nicht mehr, es ist ihm, als bete hier ein anderer, nicht er. Und dann sitzt er wieder unten beim Vater, der ihm einen Kuß auf die Stirn haucht, nur flüchtig, denn er liebt keine öffentlichen Gefühlsergüsse. Und der Rabbiner beginnt oben mit der Predigt, die mit den üblichen Worten anhebt: Meine lieben jungen Freunde... Ascher und Eva standen in der Menge eingekeilt. Niemand wußte, was da geschah, niemand sprach ein Wort, alle warteten schweigend. Plötzlich ertönte das gellende, lärmende Signal der Feuerwehr, ein Blasen, ein Tuten, ein Pfeifen, und schon fuhren vier oder fünf große Löschwagen vor, die Mannschaft sprang von ihren Sitzen, der Offizier als erster von allen. Sie machten sich an den Schläuchen zu schaffen, sie drehten die Wasserhydranten auf — aber wo war denn das zu löschende Feuer? Nirgendwo brannte es. Weit und breit war nichts von einem Feuer wahrzunehmen. Der Offizier sprach mit den Schutzleuten. Sie zuckten mit den Achseln. Robert hörte, wie 16 eine der Wachleute sagte: „Wir wurden herkommandiert, ich weiß auch nicht, warum!“ Einen Augenblick lang herrschte Verwirrung, der Offizier gab bereits den Abzugsbefehl, als sich ein junger SS-Mann vordrängte und dem Offizier zurief: „Gedulden Sie sich einen Augenblick, bitte! Nur eine kleine Verspätung!“ Und richtig, im gleichen Augenblick stürmten von der anderen Seite eine Menge uniformierter Jungen herbei, sie hielten brennende Fackeln in der Hand, sie lärmten, schrieen, stießen wilde Verwünschungen gegen die Juden aus, erbrachen mit mitgeschlepptem Werkzeug die Tore des Tempels, stürzten hinein. Nach wenigen Minuten waren die Fenster zerbrochen, auf die Straße wurden Gebetbücher, Tempelkleinodien, die Thora, die Gebettücher geworfen, schon vernahm man das Prasseln der Flammen und sah den sich entwickelnden Rauch. Nun endlich durfte die Feuerwehr eingreifen, eine Wache kam herbeigelaufen und drängte die Zuschauer ab. Ohne noch richtig begriffen zu haben, was da vor sich gegangen war, befanden sich Eva und der Doktor inmitten der Menge in einer Nebengasse. Er hörte wie ein wohlbeleibter, einfach gekleideter Mann einen anderen fragte: „Herr Nachbar, was wär denn nun das?“ „Nichts Besonderes! In allen Bezirken haben die Leute die jüdischen Tempel in Brand gesetzt, da müssen sie es halt in unserem Bezirk auch machen!“ „Aha, versteh schon! Vonwegen dem Mord in Paris...“ „Das ist halt die Strafe für die Juden...“ „Ich weiß nicht, ich weiß nicht, ich versteh das nicht...“ „Befehl ist Befehl! Man hat jetzt zu gehorchen und nicht zu denken!“ „Aha, ich versteh schon! Und in unserem Bezirk war halt die Feuerwehr früher am Platz als die wütende Menge, die den Tempel in Brand setzte! Was immer auch diese Preußen mit uns aufführen, eine Regie haben die, einfach großartig! Da werden wir Wiener gar noch viel zu lernen haben! O, du mein lieber Gott...“ Endlich waren Eva und Ascher der Menschenmenge entkommen. Eva winkte einem Taxameter und rief dem Chauffeur zu: „Franz Joseph Bahnhof!“ Der Lenker sprang von seinem Sitz und öffnete devot den Wagenschlag. Dann sah er sich vorsichtig um und flüsterte dem Einsteigenden zu: „Entschuldigen schon, ist der Herr vielleicht Jude — ein Israelite?“ „Ja“, sagte Ascher und sah den Mann fragend an. „Und will der Herr vielleicht gar ins Ausland verreisen?“ „Was geht denn das alles Sie an?“ rief Eva aufgeregt dazwischen. „Nämlich am Bahnhof, da stehen die Burscherln von der SA und verhaften alle Herren Israeliten, die verreisen wollen... Ich möchte entschiedenst abraten, ganz entschiedenst, gnädiger Herr! Warten Sie vielleicht noch ein paar Tage, dann wird der Rummel bestimmt wieder aufhören!“ „Ich danke Ihnen vielmals! Vielmals!“ sagte Doktor Ascher und stieg mit Eva in den Wagen. „Na, und wohin fahren wir denn jetzt, Herrschaften?“ fragte der Chauffeur mit der Kappe in der Hand. „Wohin Sie wollen!“ antwortete Ascher. „Nach Hütteldorf!‘“ rief Eva. „Werden wir gleich haben, bitte sehr, bitte schön!“ Im Wagen schwiegen beide, blaß und erschöpft. „Was nun?“ fragte Eva nach einer Weile. Sie dachte angestrengt nach. Doktor Ascher wollte sprechen, sie winkte ihm