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ab. Und nach erstaunlich kurzer Zeit entwickelte sie wieder einen Plan. Er war bereits vollendet, kein Detail fehlte, alles war bedacht. Es bliebe nichts anderes übrig, so meinte die junge Dame, als daß der Doktor die nächsten Tage irgendwo im Wienerwald verbringe. Keine Wohnung und kein anderer Unterschlupf sei bei der gegenwärtigen Jagd auf die Juden sicher. Der Doktor habe jetzt von Hütteldorf den Weg auf die Sophienalpe einzuschlagen. Die gebahnten Wege müsse er meiden und mitten durch den Wald gehen, dort wo er am tiefsten sei. Übernachten dürfe er in keiner Herberge, sondern nur im Freien, an möglichst geschützter Stelle natürlich... Man merkte ihr an, wie leid es ihr tat, nicht auch diese Stellen angeben zu können. Am nächsten Morgen möge der Doktor dann vorsichtig weitergehen und von der Sophienalpe den Weg nach Hochroterd einschlagen. Von dort aus könne er schon ruhig die markierten Wege benützen, so weit draußen werde man die Juden gewiß nicht mehr verfolgen. Auf diesem Wege würde er ihr morgen mittags begegnen, ein Verfehlen sei ganz und gar ausgeschlossen. Nichtsdestoweniger erteilte sie sogleich ihre Anordnungen auch für den Fall, daß sie einander doch nicht begegnen sollten. Plötzlich ließ sie den Wagen halten. Und ehe es sich der Doktor versah, fühlte er ihren Mund auf dem seinen. Es war ein heftiger, herber Kuß. Ascher suchte sie zu halten, aber sie war fort. Er wollte ihr nach, aber da sah er nur, wie das kleine, eilende Persönchen um die Ecke verschwunden war. Das achtzehnte Intermezzo Der Weg ging über eine Wiese, längs eines kleinen Baches. Es war noch hell und Doktor Ascher schritt hastig aus, er wollte den Wald möglichst rasch erreichen, er hatte das Gefühl gerettet zu sein, wenn er nur erst im Walde sei. Niemand begegnete ihm. Dennoch sah er sich von Zeit zu Zeit vorsichtig und ängstlich um. Nun endlich trat er in den Wald. Der Weg stieg jetzt ein wenig steil an, der Mann keuchte. Plötzlich entsann er sich des Befehls Evas, die markierten Wege zu meiden, und sogleich ging er in den Wald, dort wo er noch dichter war. Er rastete einen Moment lang im Stehen, an einen hohen, schlanken Baum gelehnt. Man wird doch schon alt, dachte er. Noch vor ein paar Jahren bin ich solche Wege ganz ohne Anstrengung gegangen... Die Stille bedrängte ihn, er schritt wieder aus, trat über erstorbene Blätter, das Geraschel erschreckte ihn, er glaubte ganz bestimmt, daß jemand hinter ihm sei, aber er traute sich nicht, sich umzusehen. Dann lachte er laut. Sein eigenes Lachen widerhallte, er sah sich um, er war allein. Idiotisch, dachte er, absolut idiotisch wird man... Dann wieder kam ihm eine Verszeile in den Sinn: „... Und mein Fuß tritt erstorbene Blätter...“ Wie es weiter ging im Gedicht, wußte er nicht. Von wem stammte dies nur? Und es dämmerte ihm langsam: War nicht er selber der Dichter dieser Zeile gewesen? Wann? In einem anderen Leben? Aber dieses andere Leben stand urplötzlich ganz deutlich vor ihm. Er wußte noch genau, wann ihm diese Zeile erwuchs. Nach einem Beisammensein mit Irmi. Irmi? Wer war das nur? Ein junges, blühendes, schwarzhaariges Mädchen mit quellenden Brüsten unter einem straffgespannten Kleid aus grüner Seide. Ach nein, eine alte Frau war sie, deren Mann im Konzentrationslager erschlagen und deren Sohn man zum Krüppel gedroschen hatte, Ernesto, den jungen, schönen Ernesto, dem er dereinst den Namen gegeben im Gedenken an einen längst Dahingegangen. Ernesto... Familienforschung... Er sah zu Boden und Bilder stiegen auf: er sah sich selber in alten Stichen, Zeichnungen, Porträts und Photographien kramen, er erkannte sich im Bildnis seines in einem Pogrom hingemordeten Großvaters und die Handschrift seines Urgroßvaters Gotthold, des Heineforschers. Heine? War nicht auch Doktor K. ein Heineverehrer? Merkwürdig! Doktor K., der Nazi, und Gotthold Ascher, der jüdische Journalist, beide liebten den gleichen Dichter, beide kannten seine Gedichte auswendig: ... und es welke Meine recht Hand, vergeß ich Jemals dein, Jerusalem! Nun aber war es ihm doch, als hörte er Schritte hinter sich. Er drehte sich um: zwei Männer, der eine war mittelgroß und untersetzt, der andere etwas höher gewachsen und hager. Ascher erschrak, sein Herz ging stürmisch. Er blieb stehen und wollte die beiden vorausgehen lassen. Aber da erblickten die beiden auch ihn und verlangsamten ihre Schritte. Jetzt flüsterten sie miteinander. Auch sie waren stehen geblieben und verschnauften. Der Hagere hatte ein Taschentuch hervorgezogen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann tuschelten sie wieder miteinander und gingen abermals ein paar Schritte. Nun konnte man die Gesichter der beiden deutlicher sehen. Es waren Juden... Juden! dachte Ascher und wollte glücklich aufschreien. Juden, Juden... Er verspürte ein wohliges Behagen, als würden Lasten von ihm abfallen... Aber auch die anderen schienen nun erkannt zu haben, wen sie vor sich hatten, auch über ihre Gesichter glänzte befriedigtes Lächeln. Der Hagere lüftete ein derangiertes, grünes Hütchen, blieb vor Ascher stehen und sagte: „Auch?“ Nichts weiter als dieses eine kleine Wörtchen. Ascher verbeugte sich leicht, lächelte seinerseits und sagte: „Ja. Auch.“ Der Hagere streckte die Hand vor und sagte artig: „Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle, Doktor Gans!“ „sehr erfreut!“ sagte Ascher und nannte seinen Namen. „Darf ich mich vorstellen? Ich heiße Fischel, Jakob Fischel“, sagte der untersetzte Mann und zog seinen Hut. Doktor Ascher sagte lachend: „Wir tun ja so, als ob wir uns in einem Salon befänden.“ „salon...““, sagte Doktor Gans und lachte laut. „Pst!“ machte Jakob Fischel und sah sich ängstlich um. „Mein Schwager ist ein wenig ängstlich, immer!“ sagte Doktor Gans. „Ich bin nur vorsichtig. Man ist nirgends sicher. Du kennst diese Leute noch nicht, Emil. Überall sind sie. Mich würde es gar nicht wundern, wenn dieser Baum mit einem Mal ein SA Mann wäre! Oder wenn dort aus dem Dickicht ein Gestapoagent hervorbräche...“ „Mein Schwager ist immer sehr unterhaltsam“, sagte Doktor Gans. „In jeder Situation läßt er sein Licht leuchten...“ „Nicht jeder kann so gebildet sein wie du, Emil!“ rief der Kleine. „Im übrigen weiß ich gar nicht, ob es klug ist, wenn wir da zusammenstehen...“ „Wer wird denn gar so ängstlich sein?“ „Man kann gar nicht genug vorsichtig sein! Ich wollte schon gleich nicht mit meinem Schwager zusammengehen, unter diesen Umständen ist jeder allein für sich am sichersten...“, sagte Jakob Fischel. „Aber ich bitte dich, so klug wie wir sind andere auch. Tau17