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„Na hören Sie doch mal! Diese Affaire hat doch damals das denkbar größte Aufsehen erregt! Sie waren doch unser aller Held!“ „Was ich da nicht höre! Trotzdem ich mich gar nicht duellierte?“ „Trotzdem!“ „Auch ich erinnere mich an die Sache“, ließ sich Jakob Fischel vernehmen. „Kannten Sie einen gewissen Bäucherl...“ „Bäucherl... Natürlich! Kohn! Alter Herr unserer Verbindung! Gewiß! Wir saßen bis vor kurzem gemeinsam im gleichen Konvent der Alten Herren.“ „Was ist aus ihm geworden?“ „Weiß es nicht... Was wissen wir heute schon voneinander?“ „Gute Nacht!“ sagte Fischel und gab deutlich zu verstehen, daß er zu schlafen gedenke. Doktor Gans und Ascher unterhielten sich im Flüstertone weiter. Doktor Gans sagte: „Immer wieder haben unsere Vorväter solche Situationen mitgemacht, haben in Wäldern sich verstecken müssen. Immer wieder waren wir auf der Flucht. Endlich wollten wir fort, eine eigene Heimat aufbauen, und wieder ließ man es nicht zu...“ „Vielleicht nehmen wir das Problem zu zentral“, meinte Doktor Ascher. „Vielleicht sollten wir uns nicht so sehr als Mittel- und Angelpunkt der Ereignisse betrachten...“ „Ruhe!“ rief Jakob Fischel. „Ruhe! Ich will schlafen. Durch zwei Jahrtausende und länger war das Judenproblem nicht zu lösen, es wird sich auch noch bis morgen früh halten, ich bin müde!“ Doktor Ascher streckte sich aus und schloß die Augen. Er konnte nicht einschlafen. Bilder kamen und gingen. Er sah einen endlosen Zug geplagter Menschen mit Bündeln auf den Rücken, gebeugt unter der Last schleppten sie sich her, und er erkannte unter ihnen viele vertraute Gesichter, die dem seinen ähnlich waren: Jehuda ben Jehuda, Nathan ben Jehuda, Serachja ben Nathan und Baruch und Salomo und Israel und Joseph und alle, alle anderen, und dann erblickte er sich selber am Ende des Zuges... Und er riß die Augen auf und er sah sich im Walde liegen und neben sich andere, die dem traurigen Zug angehörten. Es war schon hell, als er die Augen wieder öffnete. Die beiden Männer neben ihm hatten sich bereits zurecht gemacht und schüttelten die Erde und das Laub von ihren Gewändern. Jakob Fischel hatte seinen Rucksack aufgemacht und aus ihm eine Thermosflasche mit warmen Tee hervorgezaubert. Er bot Ascher einen Schluck aus der Flasche und der fühlte sich wohlig erwärmt, und er lobte laut mit beredten Worten die Tüchtigkeit des kleinen, wohlbeleibten Mannes, der dieses Lob gern hörte. Die Männer hatten beschlossen, einzeln weiter zu wandern. Sie reichten einander die Hände und wünschten sich alles Gute. Bald nachher war Ascher auf der Höhe angelangt. Von weitem erblickte er das schöne Hotel, er gedachte des Befehls der jungen, energischen Dame und schlug sich sogleich wieder in den Wald. Hier herab mußte wohl der Weg nach Hochroterd abzweigen. Nun würde es nicht mehr lange dauern und irgendwo würde ihn Eva erwarten. Sein Herz schlug höher, er lächelte. Er wanderte und wanderte, ab und zu machte er Halt. Er fühlte sich frei und wohl. Mit einem Mal hörte er ein Geräusch knapp hinter sich. Er erschrak und war sogleich in der Gegenwart. Ein Mann kam nun näher, es war ein alter Mann, der auf einem Stock gestützt einherschritt. Es war offensichtlich ein Jude, der gleich ihm in den Wäldern Schutz suchte. Ascher lächelte erleichtert auf. Er nickte dem Alten zu, der zog höflich seinen Hut und grüßte stumm. Dann war er vorüber... Und später begegnete er mehreren solcher Gestalten, sie lächelten einander verstohlen zu und gingen weiter... Als es bereits gegen Mittag ging, stieß er auf einen Mann, der auf einem Baumstumpf rastete, es war ein überaus intelligent aussehender Mann mit dem typischen Gelehrtenschädel. Ascher blieb stehen, der Mann lächelte ihm zu, nun war ihm dieses Lächeln schon bekannt, jeder der Wanderer lächelte auf die gleiche Weise: verschreckt, demütig, verschwörerisch. „Sind Sie schon lange unterwegs?“ fragte Ascher. „Seit früh! Heute nacht hat man alle Juden in unserem Haus verhaftet. Eine arische Patientin hat mich geschützt. Ich bin Gynäkologe. Professor...“, stellte er sich vor. „Sehr erfreut!“ sagte der Doktor und nannte seinen Namen. „Es geht arg zu in der Stadt?“ fragte er. „Sehr böse. Tatsächlich. Ein Bild aus der Hölle Dantes. Kein Jude ist seines Lebens sicher. Ich sah Gräßlichstes. Vorgestern und gestern haben die Nazi alle jüdischen Geschäfte geplündert, sie sind in die Wohnungen der Juden eingedrungen und haben geraubt und gestohlen, was sie fanden. Niemand schritt zum Schutz der Juden ein, die Wache hatte offenbar den Befehl aus Berlin erhalten, die Plünderer und Diebe gewähren zu lassen. Sie haben alle Tempel verbrannt, die Feuerwehr hatte gestern und vorgestern wahrlich genug zu tun, um ein Übergreifen der Feuer zu verhindern. Ich las selbst im “Völkischen Beobachter’, daß man die Tempel der Juden zerstören müsse, weil man nicht länger dulden könne, daß unter dem Vorwand von Gottesdiensten Versammlungen gegen den Staat abgehalten würden... Man hat in den letzten Tagen mehr als zehntausend Juden verhaftet, auf den Straßen, aus den Betten, wahllos. Mit Stolz berichten die Zeitungen, daß sich diese ‘Aktion’ auf ganz Deutschland erstrecke... In summa, eine höchst kulturelle Tat, nicht wahr?“ „Ja, Herr Professor, was soll man da sagen?“ Der Professor lächelte still vor sich hin, er schwieg eine lange Weile, ehe er fortfuhr: „Mein Vater war ein fanatischer Anhänger der Sicherheits-Theorie. Er hatte sich und alle seine Angehörigen versichert. Er zahlte Prämien und Prämien in die Versicherungskassen ein, er war auf Erleben und Ableben assekuriert, gegen Brandschaden, Einbruch und Beraubung. Der Schmuck meiner Mutter war versichert, ja er kaufte sogar eine Versicherung, die ihm schönes Wetter während seines Urlaubes oder entsprechenden Geldersatz sicherte. Er wollte aus allen seinen Kindern am liebsten Staatsbeamte machen, und sein Grundsatz war: Lieber wenig, aber sicher! Er war, wenn ich es so richtig betrachte, der eigentliche Repräsentant seiner Zeit, die man das Jahrhundert der Security nennen könnte. Auf allen Gebieten wollten die Menschen Sicherheit haben, auf dem der Wissenschaft, der Politik, der Wirtschaft, des Lebens überhaupt. Sie wiegten sich in Sicherheit... Seither haben sich die Zeiten geändert. Alles schien ihnen gesichert, schien ewig zu währen... Eine Kleinigkeit scheinen die Herrschaften zu übersehen: Indem sie unsere Sicherheit niederreißen und demolieren, zerschlagen sie gleichzeitig ihre eigene... Aber genug, lieber Doktor! Auf Wiedersehen irgendwo und irgendwann, verehrter Herr Doktor!“ 19