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Ich schlich mich in die Menge hinein. Alle saßen ohne erkennbare Ordnung nebeneinander und hörten dem mir unbekannten Redner aufmerksam zu. Immer wieder gab es Zwischenrufe, Jubel brandete auf. Manchmal wurde das Geschrei so laut, daß ich es kaum aushalten konnte. Ich nahm in der letzten Reihe Platz, blieb eine Weile still und schaute den Leuten nur zu. Eine lautes „Hurra“ zwang mich erneut, mich dem Redner zuzuwenden und ihn genauer zu beobachten. Der junge Mann sprach überaus emotionsgeladen, seine Posen erstaunten mich: Er bewegte seine Hände wie ein alter religiöser Führer und erinnerte mich an einen, der vor vielen Jahren die Massen zum ewigen Genuß im Jenseits eingeladen hatte. Dieses Gemisch von Gestern und Heute in einer Person faszinierte mich, und ich versuchte, ihm aufmerksamer zuzuhören. Er beschrieb wohl die demokratischen Rechte. Wurde er deswegen von der Menge so heftig bejubelt? Die Zuhörer unterbrachen ihn so oft mit ohrenbetäubendem Jubel, daß meine geschwächten Nerven ihm nicht länger folgten. Da ich mich nicht mehr auf den Inhalt seiner Rede konzentrierten konnte, wandte sich meine Aufmerksamkeit unweigerlich wieder dem Publikum zu. Als der junge Mann dreimal hintereinander das Wort „Freiheit“ wiederholte (warum immer dreimal?), antwortete die Menge mit einem dreifachen „Hurra“, und als er so heftig bejubelt wurde, verwandelte er sich in meinen Augen sofort zu einer militanten Figur. Seine Verwandlung rief in mir starke Besorgnis hervor. Obwohl ich nach so vielen „Hurras“ sicher sein sollte, daß er die alten und unerfüllten Wünsche der Bevölkerung wiederholte und deswegen seine Ziele mit meinen übereinstimmen dürften, konnte ich mich meiner Bedrücktheit nicht erwehren. Sie machte mich mutlos und begann, mich innerlich von der Masse zu isolieren. Um meine Besorgnis mit jemandem teilen zu können, fing ich an, nach bekannten Gesichtern zu suchen. Endlich entdeckte ich eines und ging zu dem Mann, setzte mich neben ihn. Er war allein gekommen und hatte sich an eine Wand gelehnt. Wir schauten einander an und lächelten uns zu, ohne ein Wort zu wechseln, genossen einige Momente unsere Anwesenheit in der aufgeregten Menge. Ich war mir sicher, daß wir uns nicht nur über unser Wiedersehen freuten, sondern vor allem über die neue Situation der Gesellschaft, über die unzählbare Masse, die sich nochmals für die Verwirklichung ihrer Sache eingefunden hatte. Vielleicht war es auch wegen der Ähnlichkeit ihrer Parolen mit unseren damaligen, oder vielleicht wegen des heutigen gemeinsamen Zieles. Ich konnte mich an den Namen des Mannes nicht erinnern, aber das Gesicht war noch freundlicher und netter als früher und schien mir sogar geeignet zur Abbildung auf einem roten Plakat mit fett gedruckten Untertiteln. Ich wollte meinem Freund meine Sorgen mitteilen und ihn fragen, ob auch er meine Befürchtungen hege. Doch er machte einen derart begeisterten, beseligten Eindruck, daß ich von meinem Vorhaben Abstand nahm und es besser fand, seine Hoffnungen nicht in Frage zu stellen. Je länger ich jedoch meinen Freund beobachtete, desto düsterer wurde es in meinem Kopf. Plötzlich verwandelte er sich 22 in ein großes Plakat, und ich konnte ganz deutlich darunter lesen: „Es lebe die Freiheit!“. Die Zeile darunter lautete: „Im Jahre 1986 im Kampf um Demokratie ums Leben gekommen.“ Da betrachtete ich meinen Bekannten genauer, und tatsächlich war er jetztein Bild, in Großformat gedruckt und auf die Wand geklebt. Nur seine Augen schienen noch lebendig zu sein und die Vergangenheit widerzuspiegeln. Ich glaubte, daß er meine Besorgnis teilte: Obwohl ich froh über die neue politische Entwicklung war, dachte ich, es sei unfair, diesen Jungen als Führer gelten zu lassen. Jetzt müßte Genosse Mustache auftreten und die Menge aufklären, was Freiheit bedeute und wozu sie gut sei. Jetzt müßte er da sein, um die Demokratie so zu beschreiben, daß das Volk nach ihr hungerte und um sie kämpfen wollte, wie sie damals um Brot gekämpft hatte. Jetzt müßte Genosse Mustache hier sein und betonen, daß jede gesellschaftliche Entwicklung vor allem intelligente Menschen und viel Zeit benötige und man nicht nur mit Machtübernahme und Ehrlichkeit alles ändern könne „und zwar sofort“, wie dieser junge Redner gerade behauptete. Ich bekam Angst vor der aufgewühlten Menge, zog mich zurück, wollte nach Hause gehen. Alle Straßen und Gassen schienen ungewöhnlich leer. Als wären alle Einwohner zwangsweise aus ihren Häusern vertrieben worden. Die schreckliche Leere erweckte meine Neugier. Ich begann, jedes Haus genau anzusehen und nach Spuren zu suchen, die die Zeit verwischt hatte. Ein Passant, dessen Angesicht grau war wie das der Häuser, trat auf mich zu, lächelte und sagte: „Du betrachtest die Häuser wie ein Dieb, aber dein Gesicht sieht aus wie das von einem aus der verlorenen Generation. Du bist sicher entweder ein Fremder oder ein zurückgekehrter Exilant, der nach Freunden und alten Bekannten: sucht, oder herumläuft, um die Lücken seiner Erinnerung zu stopfen. Heutzutage begegne ich vielen Fremden, die nichts zu tun haben als auf der Suche nach ihrer Vergangenheit in der Stadt herumzulaufen, aber merkwürdigerweise sprechen sie mit niemandem. Man könnte annehmen, sie seien stumm geworden oder hätten ihre Muttersprache vergessen. Am merkwürdigsten ist, daß ihre Augen wie die von Toten aussehen. Das ist herzzerreißend!“ Ich entgegnete: „Vielleicht haben Sie recht. Warum aber sind die Straßen so leer?‘ Der Passant erklärte: „Alle sind weggegangen, um das Irrenhaus zu besetzen.“ „Wie bitte?‘, fragte ich, „Irrenhaus? Besetzung? Warum denn das?“ Er wurde ungeduldig: „Ich muß gehen. Wenn ich in Eile bin, kann ich keine passenden Worte finden. Ich habe damit gemeint, daß die Leute das Irrenhaus zurück haben wollen, vielleicht wollen sie es auch nur anschauen“. Er wartete nicht mehr auf eine Antwort und setzte sich in Bewegung. Ich lief ihm nach: „Was ist denn dort los?“ Er antwortete: „Du kannst ja hingehen, dir die Sache ansehen und deine Frage selbst beantworten. Ich gehe auch dorthin.“ Ich hörte nicht auf zu fragen: „Suchen Sie dort einen Freund oder treffen Sie dort Bekannte?“ Er erwiderte: „Vielleicht und vielleicht auch nicht. Wenn du einen Freund dort hattest, erkennt er dich bestimmt nicht wieder. Alle verändern sich dort sehr schnell. Man sagt,