OCR
daß mit den Jahren alle einander ähnlich sehen. Ich habe aber von der ganzen Sache nur gehört und habe selbst nichts davon gesehen, und ich glaube, daß auch ein Großteil der Stadtbevölkerung ihnen noch nie begegnet ist und nicht die leiseste Ahnung hat, trotz der heutigen großen Sympathie für sie. Deswegen muß ich selbst hingehen und es mit eigenen Augen sehen.“ Er ging noch schneller, mühsam hielt ich mit ihm Schritt. Wir passierten eine leere Straße, ohne ein Wort zu wechseln. Schließlich erreichten wir einen großen Platz, der am Anfang einer Gebirgsstraße lag. Der ganze Platz war voller Menschen, die ausnahmslos rote Gesichter hatten. Ich begab mich mitten in die Menge hinein. Alle strebten in Richtung der Gebirgsstraße. Ich wurde von der Menge mitgeschwemmt, ohne das Ziel zu kennen oder meine Geschwindigkeit selbst kontrollieren zu können. Für einen Augenblick dachte ich an Rückkehr, aber die Masse war so dicht gedrängt und die Gesichter waren so ernst, daß ich sofort die Unmöglichkeit dieses Gedankens erkannte. Wir näherten uns einem schwarzen Tor, wo sich die Menge in fünf- bis achtköpfige Gruppen teilte. Ich war einer der ersten am Tor und fühlte mich allein, aber dieses Gefühl dauerte nicht länger als eine Sekunde, denn prompt zogen mich einige Teilnehmer mit sich. Ich landete in einer fünfköpfigen Gruppe, ohne die Namen der anderen Mitstreiter zu kennen. Zum Vorstellen blieb keine Zeit, denn wir alle wollten sofort hinein. Es gab auch nur wenig Zeit für kurze Mitteilungen vor dem Eingangstor. Einer von ihnen ermahnte uns, einander auf keinen Fall alleinzulassen, so daß jeder dem anderen bei Gefahr helfen könne. Wir drückten ganz fest unsere Hände und gingen los. Ich konnte nur noch fragen: „Was für eine Gefahr meint ihr?“, und einer aus der Gruppe antwortete : „Keine Ahnung, aber wenn wir in Gefahr kommen, müssen wir uns wie eine Familie verhalten.‘ Nach diesen Worten war mir klar, daß niemand auch nur die geringste Ahnung von diesem sogenannten Irrenhaus hatte. Alle waren nur sehr neugierig und wollten sofort herausfinden, was darin los war. Ich gehörte zu jenen, die nur aus Neugier an diesem Abenteuer teilnahmen. Wir gingen durch das schwarze Tor und passierten einen feuchten und schmalen Korridor. Wie vereinbart, versuchten wir zuerst, uns alle Wege einzuprägen, um uns im Notfall nicht zu verirren. Als ich in den nächsten Flur trat, beschlich mich ein unangenehmes Gefühl. Langsam begann ich mich immer wieder zu fragen, wo die anderen Gruppen geblieben waren, aber jedesmal lenkten mich andere Gedanken ab. Schließlich kamen wir an eine Kreuzung. Die Gruppe teilte sich in noch kleinere Teams auf, und ich blieb allein. Vor mir lag ein langer grauer Gang. Ich schlug diesen Weg ein. Das Licht war nicht gut genug, um das Ende des Korridors zu sehen. An der rechten Wand befanden sich viele kleine grüne Türen. Dahinter hörte ich unverständliche Gespräche, aber auch seltsame Schreie und Lachen. Jeden Augenblick war ich auf eine unerwartete Begegnung gefaßt, sah aber niemanden. Zögernd setzte ich meinen Weg fort und erreichte schließlich eine neue Kreuzung. Plötzlich erblickte ich auf der linken Seite einen Wachposten und hörte ein lautes Telephongespräch. Eine leichenblasse Dame schrie in den Hörer, in ihrer Stimme schwang unendliche Angst. Gebannt hörte ich zu: „Ich flehe Sie an, beeilen Sie sich! Schicken Sie sofort alle Garden, die Sie zur Verfügung haben. Hier herrscht Aufruhr und Chaos, etliche sind schon ums Leben gekommen. Einer bringt den anderen um!“ Diese Worte jagten mir bittere Angst ein, und ich wollte nur noch weg. Um lautlos und so schnell wie möglich zu verschwinden, zog ich meine Schuhe aus. Doch in der Mitte des grauen Korridors wurde ich von hinten festgehalten. Ich stieß den Kerl zur Seite und versuchte weiterzulaufen. Zwei Personen attackierten mich von der anderen Seite - ich warf dem ersten meine Schuhe an den Kopf und wollte den zweiten mit einem harten Schlag wegboxen. Das gelang auch, aber einer hinter mir schrie: „Spion, Spion!“, und alle Türen öffneten sich. Sie nahmen mich fest und ließen mich durch zwei Personen abführen. Sie verbanden mir die Augen, schleiften mich endlose Minuten mit sich, stießen mich in eine Zelle und schlugen die Tür zu. Das metallische Knirschen des Schlosses war das letzte Geräusch, das ich hörte. In der Zelle nahm ich langsam die Augenbinde ab, aber es blieb stockdunkel. Ich hoffte, daß dies nach einiger Zeit vergehen würde, aber ich konnte nicht einmal die Wände der Zelle sehen. Voller Ungewißheit verblieb ich in diesem schwarzem Loch und wartete. Ich bemühte mich, keine Geräusche zu machen, um von draußen etwas zu hören, aber auch dies blieb vergeblich. Vollkommene Stille herrschte in der Finsternis. Je mehr Zeit verging, desto stärker fühlte ich, daß mich dieses schwarze Loch verschlingen und auflösen würde. Ich begann, Selbstgespräche zu führen und ertappte mich immer wieder, daß meine Gedanken um meine frühere politische Laufbahn kreisten. Ich kritisierte mich selbst für diesen Unsinn: Es gab doch wegen meiner früheren Aktivitäten keinen Grund zur Befürchtung! Das Schlimmste war, daß ich keine Ahnung hatte, wo ich hier hingeraten war. Ich begann mich zu fragen, warum so viele Menschen sich für dieses Hauses interessierten, konnte aber keine vernünftige Antwort finden. Schließlich befahl ich mir, vor allem ruhig zu bleiben und mein Schicksal abzuwarten. Nach ungezählten Stunden in der Finsternis war ich sicher, mich in einem Gefängnis zu befinden — daher mußte ich logischerweise mit einem Verhör rechnen! Es geschah aber nichts, und in dieser unendlichen schwarzen Totenstille kam mir automatisch immer wieder meine politische Laufbahn ins Gedächtnis. Das Problem war jetzt vor allem der Mangel an Informationen: Wer regierte in diesem Verlies? Weswegen könnte man mich anklagen? Ich ging mit mir ins Gericht: Warum habe ich dem Redner nicht genau zugehört? Was verstehen diese Leute unter Freiheit? Was wollte ich eigentlich im Irrenhaus erreichen? Warum war ich auf einen Zug aufgesprungen, ohne das Ziel zu kennen? — Ein merkwürdiger Gedankenprozeß setzte sich in Gang. Ich begann, an meinen Überzeugungen zu zweifeln und ertappte mich bei dem Gedanken, denen Recht zu geben, die mich in diese Zelle geworfen hatten. Wieso hatte ich den Unbekannten aus der Gruppe vertraut? Wo waren sie jetzt? Was hatte ich mit ihnen zusammen erreichen wollen? Waren sie eigentlich für die neue Regierung oder gegen sie? Unzählige Fragen stürmten auf mich ein, doch ich fand keine Antworten. Ich ging einige Schritte in meiner Zelle auf und ab und versuchte, in dieser absoluten Dunkelheit irgendetwas zu berühren, um zumindest meine Grenzen kennenzulernen. Ich streckte, etwas zu ertasten, die Hände vor mich ins Dunkel aus, aber es herrschte um mich herum nur diese dicke schwarze Dunkelheit, die sich mit jeder Sekunde zu verdichten schien. Weiterzugehen hatte kein Sinn. Ich blieb stehen. Dann versuchte ich, zu meinem vorherigen Platz zurückzukehren, aber auch dies vergeblich. Ich verlor die Orientierung, setzte mich auf den Boden und ließ die kleinen Sterne auf mich einströmen, die vor meiner Netzhaut flimmerten. Am Anfang flogen 23