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Als Israel Offmann zusammen mit seiner Frau Ende der fünfziger Jahre das Ringcafe in Straubing übernahm, war ich gerade in meinem dreizehnten Lebensjahr. Wir hatten in der Küche ein Radio mit einem grünen, magisch zitternden Auge. Meine Eltern hörten mit diesem Kasten in die Welt hinaus, ich hörte damit einzig und allein AFN. Schon morgens um sieben sang Paul Anka zum Frühstück „Put your head on my shoulder...“ Er konnte das Wort „shoulder‘ so ziehen, daß ich die Hälfte meiner Schulsachen vergaß und im vollbesetzten Bus verstohlen nach jemandem Ausschau hielt, dem ich meine Schulter gerne geliehen hätte. Auf dem Weltempfänger stand eine Vase mit einer vergilbten Papierblume und daran angelehnt ein Foto, das immer dann zu fliegen begann, wenn meine Lieblingsmusik das Holzgehäuse zum Vibrieren brachte. Das Foto zeigte den offenen Sportwagen meines Onkels mit einer langen Schnauze und Speichenrädern. Ich lehnte am linken vorderen Kotflügel mit einem großgemusterten Hemd, einer starren Locke auf der Stirn und einem angebissenen Apfel in der Hand. Die Straße, in der wir damals wohnten, war ungeteert, an unserem Gartenzaun graste oft die Kuh der Nachbarin, und das Nummernschild wies meinen Onkel als amerikanischen Besatzungssoldaten aus. Auf der Rückseite des Bildes, stand — in typisch amerikanischer Handschrift, wie meine Großmutter meinte — „When you grow up you may want to have an Austin Healy too“. Zu diesem Zeitpunkt wünschte ich mir weder einen Sportwagen noch einen Straßenkreuzer mit Heckflossen, auch nicht für später. Ich wünschte mir ein Saxophon, mit dem ich solange heiser röhren konnte, bis sich unter dem Hemd Gänsehaut ausbreitete, mit dem ich in ein Mikrophon hineinkriechen konnte, um einen Verstärker zum Explodieren zu bringen. Ich wußte natürlich, in diesem Jahr würde unter dem Christbaum kein matt-schwarzer Koffer liegen, sondern leichte Etüden von J. S. Bach für Violine, daneben ein zusammenklappbarer, blecherner Notenständer, höhenverstellbar, für jede Altersstufe. Wir hätten bei uns in der Straße sofort eine Band wie die „Comets“ auf die Beine stellen können. Wir konnten auf den Zehenspitzen stehen, die Knie nach innen gedrückt, den Oberkörper zurückgeworfen, eine Hand in der Luft, die andere in der Hüfte, als hätten wir die Hula-Hoop-Reifen unserer Mütter ausgeliehen, alle in einer Reihe, mit einem Lachen breiter als jede Bühne. Nur die Instrumente fehlten uns. Auch dreizehn Jahre nach Kriegsende war ein Tagescafe eine trübsinnige Angelegenheit. Manche Straubinger hatten zwar die Caprifischer schon aus der Nähe gesehen, aber Zuhause sparten sie auf eine Stereotruhe oder einen Fernsehapparat, und der Film „Das Mädchen Rosmarie“ zog sie mehr in seinen Bann als das Ringcafe. Deswegen beschloß Offmann in den alten Räumen ein Tanzcafe zu eröffnen, und kurz vor Weihnachten war das „Espresso“ geboren. Die gute Musik „Am Platz!‘ sprach sich schnell unter den amerikanischen Soldaten der Mansfield-Barracks herum. Den ersten Weihnachtsabend im neuen Lokal feierte man zusammen mit den jungen GIs. Für diesen Abend hätte Offmann am liebsten ein Orchester, eine Big Band oder doch wenigstens eine Combo engagiert, bekam aber nur einen Pianisten. Er bat ihn, auch ein paar amerikanische Weihnachtslieder zu spielen. Später erzählte er oft lachend, dies sei sein erster Fehler in der Musikbranche gewesen. Das Heimweh der jungen Soldaten fing an zu kochen, es brodelte und lief über. Nachdem Hank Peterson mit sanfter Stimme von einer weißen Weihnacht geträumt hatte, mit jedem Schlag seines Herzens, glich das „Espresso“ dem Berliner Sportpalast nach einem Bill-Haley-Konzert. Die erste, mit Kredit erworbene, Möblierung war bis auf den letzten Stuhl gesplittert. Der Himmel hing schwer über der Stadt. Niemand hätte in diesem dichten Nebel von einer Brücke zur anderen sehen können. Der Fluß war grau, die Häuser waren grau, und sogar die Hunde, die am Ufer entlangstreunten und vor Wind und Kälte in die Seitenstraßen flüchteten, waren grau und griesgrämig. Harry interessierte sich nicht für den Nebel, der Schottland verschluckte. Er interessierte sich für die sechs Saiten seiner Gitarre. Er hatte gerade einen Wettbewerb in einem riesigen Kino gewonnen, und für ihn vermischte sich das Platschen des Regens mit dem Applaus der Zuhörer zu einem Rhythmus, über dem sich stundenlang improvisieren ließ. Er war der Einzige gewesen, der spielen konnte wie Scotty Moore, der Gitarrist von Elvis. Das kleine weiche Plättchen zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand, konnte er gleichzeitig mit Mittel- und Ringfinger zupfen. Damit ließ er die Gitarre laufen, konnte Baßmelodie und Harmonien gleichzeitig hervorzaubern. Er überraschte die Jury durch Präzision, er begeisterte das Publikum mit Schnelligkeit, und er machte die Musiker im Parkett auf sich aufmerksam, die hinter einem Jungen wie ihm her waren. Er würde nicht in Glasgow versauern. Auch wenn der Vater brüllte, die Mutter schimpfte und jammerte, er würde nach London gehen, denn dort konnte man in den Musikclubs etwas hören, auf das man im Norden der Insel vergeblich wartete. Niemand würde sich um ihn reißen, dafür gab es in Soho zu viele junge Gitarristen, aber er würde eine Band finden. Wieso sollte er Klempner werden, wenn er auf einer Bühne stehen konnte im glitzernden Jackett mit weißen Hosen? Wieso sollte er sich im Blaumann unter schottische Spülkästen zwängen, wenn er mit seinem Instrument die Leute zum Tanzen bringen konnte? Sein Beruf war Musiker, sein Arbeitsplatz die Clubs in London, und wenn er Glück hatte, schaffte er den Sprung über den Kanal. Irgendwann würde er soviel verdienen, daß er in den USA eine Fender Stratocaster bestellen konnte. Sollten andere hier im Nebel herumstochern, er wäre am Liebsten schon vom Kino aus zum Bahnhof gelaufen, um herauszubringen, wie man am billigsten nach London kam. Meist bleiben glückliche Tage verschwommen im Gedächtnis zurück, während das Grauen sich festsetzt und immer wieder hervorkriecht, vor allem nachts. Ein paar Tage nachdem die Nazis endlich aufgegeben hatten, wurde Israel Offman von amerikanischen Soldaten auf eine Bahre gehoben. Sie fuhren ihn auf der offenen Ladefläche eines Militärlastwagens von Gannacker nach Straubing. Er war neunzehn Jahre alt, aber er sah aus wie ein alter Mann, der schon lange verhungert war. Die SS hatte ihn im Lager zurückgelassen, weil sie ihn mehr zu den über hundert Leichen hinter der Krankenbaracke zählten, als zu denjenigen, die sie mit einem weiteren letzten Transport quälte. Unterwegs hörte er auf zu atmen. Deswegen wurde er nicht in das Krankenhaus der Barmherzigen Brüder eingeliefert, sondern mit anderen, denen auch die Kraft für die Rettung fehlte, in einer Schule aufgebahrt. Ein katholischer Geistlicher bekam den Befehl, sich 25