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um die Toten zu kümmern. Während er den jungen Mann, dem er unter den Knochen nicht ansehen konnte, ob er in Frankreich oder Rumänien, in Ungarn oder Rußland aufgewachsen war, mit Weihwasser bespritzte, schlug Israel die Augen auf und bat: „Bitte nicht taufen, ich bin Jude.“ Der Priester brachte Offmann zu den Lebenden zurück und wachte Tag und Nacht an seinem Bett, denn sein Körper mußte vorsichtig wieder an Nahrung gewöhnt werden. Als er das Krankenhaus verließ, hatte er noch immer die gestreifte Lagerkleidung an, darüber einen Fliegermantel. Er versuchte in schlaflosen Nächten dem glücklichen Tag seiner Befreiung scharfe Konturen zu geben, ihn einzubrennen neben den fast zweitausend anderen, die er seit seinem vierzehnten Lebensjahr in verschiedenen Lagern dahinvegetieren mußte. Er bekam die Wohnung eines ehemaligen SA-Mannes zugewiesen und ab diesem Tag trug er viel zu große Reithosen und braune Schaftstiefel. Er blieb in Straubing, denn in seiner Heimat Tschenstochau hätte ihn die Erinnerung an die ermordeten EItern und die Geschwister lebendig begraben. Mit vierzehn war er von einem behüteten Tag auf den anderen erwachsen geworden. Auf seinem Transport vom Elternhaus in die Konzentrationslager hatte er noch, wie viele Jungen seines Alters, eine Zündholzschachtel in der Hosentasche. Da hinein versteckte er das Glück seiner Kindheit. Die Schachtel war auf dem Weg von Buchenwald über Auschwitz, Sachsenhausen, Dachau nach Gannacker verloren gegangen. Ich sah Israel Offmann, den Musiker und Soldaten lieber „Joe“ nannten, zum ersten Mal, als er hinter der Bar stand, mit einer Flasche Bluna in der Hand, und die „Fleets‘“ aus Schottland „Take a message to Mary‘ auf die Tanzfläche hauchten. Meine Begeisterung für den Rock ’n’ Roll war aus dem Saxophon geschlüpft und hatte sich im silbernen Gehäuse eines Mikrophons eingenistet. Meine Liebe galt einem Mädchen, das nur über die Leichen seiner Eltern das „Espresso“ hätte betreten dürfen. Ich starrte bewundernd auf die Bühne, dabei nickte ich mit dem Kopf wie ein pickendes Huhn. Drei Gitarren und ein Schlagzeug, das war die Besetzung, auf die wir alle gewartet hatten. Ab und zu schob sich an mir vorbei der Ärmel einer schwarzen Lederjacke, von der ein strenger Geruch ausging, und eine Bierflasche wurde auf einer Trommel abgestellt. Ohne sein Spiel zu unterbrechen, nahm der Schlagzeuger die Flasche, um sie vorsichtig zum Bühnenrand zurückzuschieben. Würde sich das Bier über die gespannten Felle ergießen, würde der Musiker der Angreifer sein. Bei einer Pfütze auf der Tanzfläche, käme die schwarze Lederjacke in Bewegung. Das Unglück zog sich über dem strengen Geruch zusammen wie Fliegen über dem Hundekot. Joe’s Leute standen bereit. Die Verabschiedung des Störers an der Türe oder auf dem Straßenpflaster würde er selbst übernehmen, auch wenn er einen Kopf kleiner war als die meisten seiner Gäste. Plötzlich stand eine zweite Flasche auf der rot glänzenden Trommel. Als der Betrunkene verwundert nach seinem Bier griff, prostete ihm der Schlagzeuger lachend und aufmunternd zu. Mit dem Klirren der Flaschen verwandelte sich die Lederjacke in einen Freund, der im Ernstfall die Musiker gegen das ganze Lokal verteidigen würde. Fünf Minuten später tanzte ein Tablett mit klaren Schnäpsen in Richtung Bühne und setzte ein oft geübtes Ritual in Gang: Der Verstärker wurde auf Hall gestellt, die Gläser zum Schein angesetzt, ein tausendfacher Rülpser kugelte aus den Lautsprechern, und so voll wie sie gekommen waren, wanderten die Gläser an die Bar zurück. Wäre jemand auf der Straße in der frischen Nachtluft gestanden, er hätte den Überdruck hören können, der aus dem „Espresso“ entwich, ein hohes, 26 scharfes Pfeifen, ähnlich dem Geräusch eines Motorradreifens, der durch Bremsen blockiert wird. Kaum eine halbe Stunde später fing Joe mich auf dem Weg zur Toilette ab und schleuste mich in die Küche, denn dort war ich vor der Polizeikontrolle sicher. Ich war noch keine achtzehn, aber schon zusammen mit Jack Kerouac von New York nach Frisco unterwegs gewesen und lehnte dementsprechend abgeklärt, die Hände in den Gesäßtaschen, an der Spüle. Ich bewunderte meinen Freund Walther, immer mit einem Buch neben den Lautsprechern sitzend, um allen anderen zu zeigen, wie wichtig die Verbindung von Literatur und Musik für ihn war. Ich wäre gerne so verrückt gewesen, wie der Sohn meiner Biologielehrerin, der jeden Tag zur selben Zeit im Tschibo in einen Gummibaum biß. Ich hatte Sehnsucht nach einem Zimmer, das ich absperren konnte, wenn geliebter Besuch da war. Am Liebsten aber wäre ich Sänger der „Fleets“ gewesen, angeheizt von Harry’s Stratocaster und dem harten Schlag der Snardrum, bejubelt von den Gls und ihren Bräuten, mit einem echten Vertrag für das „Espresso“, auf dem Sprung nach Hamburg in den „Starclub“. Raus aus dem Nest, in dem meine EItern immer Angst hatten, die Polizei würde mich nach Hause bringen, und die Hauptaufgabe des Frisörs nach wie vor darin bestand, Haare abzuschneiden. Raus aus dem Mief, in dem einer, die im Minirock erwischt würde, schon Bescheid gestoßen würde, und die neugegründete Bundesliga wichtiger war als Radio Luxemburg. Die örtlichen Bands hießen roadfunners, desperados, bedbugs, hungry eyes, midnight brothers und unknown. Die Lautsprecheranlage eines Beat-Festivals in einem Kolpinghaus hatte maximal hundert Watt. Die Musiker kamen aus Frontenhausen, Raßbichl und Aiterhofen. Auch wenn die meisten von ihnen tatsächlich unbekannt blieben, sie vertrieben ein für alle Mal Vico Torriani, René Carol und Lys Assia. Sie machten den Sonntagen, an denen der Regen gnadenlos auf die Langeweile tropfte, ein Ende. Als das „Espresso“ nach zwölf Jahren geschlossen wurde, blieben ein paar Elektrogitarren in Übungskellern zurück. Ein paar Fanclubs wollten die Zeit aufhalten, und ein paar Ehen, begonnen auf den Rückbänken von Borgwardlimousinen oder Leukoplastbombern, reihten sich in den Alltag ein. Stapel von zerkratzten 17-cm-Schallplatten wurden wie Hostien gehütet, dann von einem Platz auf den anderen geschoben und wanderten schließlich in die Mülltonnen. Harry Doyle blieb in Straubing. Er bringt heute Jugendlichen, die auch in Straubing „kids“ genannt werden, in seiner Gitarrenschule bei, wie man ein kleines, weiches Plättchen in die rechte Hand zwischen Daumen und Zeigefinger nimmt und mit Mittel- und Ringfinger zupft. Offmann ist Leiter der israelitischen Kultusgemeinde von Niederbayern. Als hätte das Alter Scheu vor einem, der dem Tod vor über fünfzig Jahren schon einmal begegnet ist, hat es ihm seine blitzenden Augen und seine Lebendigkeit gelassen. Wenn an einem sonnigen Tag aus einem offenen Fenster Eddy Cochrans „Summertime Blues“ zu hören ist, kann es sein, daß er auf dem Weg ins Büro für eine Weile stehen bleibt, nicht nur seines angegriffenen Herzens wegen. Wolfgang Sreter, geb 1946 in Passau, lebt als freier Autor in München. Veröffentlichte zuletzt: „Das Glück heißt Sreca“ in „München - ein Reise-Lesebuch“ Lichtung Verlag, Viechtach 1999; „Der Jazzdirigent — ein konzertantes Solo“, Text- und Tonlabor im Theater in der Schauburg, Miinchen, in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Rundfunk 1999; Preis des Landestheaters Schwaben 2000.