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Hilde Zaloscer schlägt eine radikale Durchforstung der Kunstgeschichte vor: das autonome Kunstwerk findet sie nur in der Malerei und Plastik der Renaissancetradition (etwa von Giotto bis Ce&zanne) verwirklicht; die Bilder und Skulpturen früherer Zeiten (einschließlich der griechisch-römischen Antike) und anderer Kulturen zählen für sie zu den religiösen Artefakten, die eine Kult- doch keine Kunstfunktion haben; und die Künstler des 20. Jahrhunderts haben für sie den Kunstbereich wieder verlassen, indem ihre Werke zum bloßen Vehikel für den Transport von Ideen geworden sind: Ideographen. Im postfesten Begriff der Kunst, wie er ideell in der klassischen Kunstphilosophie, materiell im Museum der schönen Künste realisiert ist, sieht sie folglich eine Verfälschung, da die Artefakte aus ihren ursprünglichen Zusammenhängen gerissen und zum Objekt einer ihnen nicht angemessenen ästhetischen Betrachtung gemacht werden. Ich will dem historisch und rezeptionsgeschichtlich nicht zu nahe treten, frage mich aber, ob solche Rigidität nicht mehr Abgrenzungsprobleme als Klarheit schafft. Es ist anregend und wichtig, den „Kunstbegriff“ einmal nicht bloß erweitert und gewendet, sondern scharf eingegrenzt vorgestellt zu bekommen. Diskutierten die Sechzigerjahre noch, ob die gerade letzten Hervorbringungen (wie Minimalismus, Pop-Art usw.) nicht mehr, gerade noch oder erst recht Kunst seien, hat sich seither eingebürgert, fraglos alles Kunst zu nennen, was Inventar der Institutionen des Kunstbetriebs ist oder durch reflexive Anstrengung des gebildeten Kulturmenschen als solche wahrgenommen werden kann (für welches Auskunftsmittel Rudolf Burger unlängst wieder plädiert hat). Beides bedeutet, daß der Kunstcharakter am Werk selbst nicht mehr objektivierbar ist. An die Stelle des autonomen Kunstwerks tritt die institutionelle Autonomie des „Betriebssystems Kunst“. Für Hilde Zaloscer ist die Autonomie der Kunstwerks untrennbar verbunden mit der Rationalität künstlerischer Verfahrensweisen: die Renaissancemalerei geht für sie mit der Wissenschaft Hand in Hand bei der Erforschung und Darstellung der diesseitigen Welt mit Hilfe von Perspektive, Proportionslehre usw. Der Modernismus des 20. Jahrhunderts dagegen wirft keinen selbständigen und rationalen Blick auf die Welt und wird abhängig von wuchernder Interpretatorik, die den Mangel eigener Deutungsmacht der Werke kompensieren soll. Sowohl in den diffusen Botschaften der Künstler wie in den oft konfusen Erläuterungen der Interpreten zeigt sich der bestimmende Einfluß des Irrationalismus, von der Theosophie über die Anthroposophie bis zur Rassenmystik, von Nietzsche über Bergson bis zum Postmodernismus, worauf zuletzt auch andere Autoren hingewiesen haben, Beat Wyss etwa und Jean Clair. Der Antihumanismus der Avantgarden rückt sie mitunter in die Nähe faschistischer und nationalsozialistischer Ideologen. Jedenfalls hält der Glaube an die politische und ideologische Unschuld der Avantgardekunst der Untersuchung der Tatsachen nicht stand. Ich stimme Hilde Zaloscer darin zu, daß ein irrationalistischer Symbolismus, d.h. ein gegen den Humanismus des 19. Jahrhunderts und gegen das wissenschaftliche Denken gerichteter Symbolismus, einen großen Teil der Kunstproduktion des abgelaufenen Jahrhunderts beherrscht. Ich unterstütze, daß sie gegen das Denkverbot angeht, das darin besteht, daß der Rezipient alles, was als Kunst dargeboten wird, für Kunst halten muß, wenn er nicht die baffa barba eines Reaktionärs oder eines weinerlichen Traditionalisten umgehängt bekommen will. Werke, deren Aussagefähigkeit zwischen Banalität und vieldeutiger Unklarheit schwankt, mögen sich für die Inszenierungen des Kunstbetriebs eignen, erfüllen aber kaum einen Kunstanspruch. Ich stimme Hilde Zaloscer nicht zu, wenn sie für die Renaissance eine Art technisch-wissenschaftlichen Automatismus der Rationalität und der Autonomie annimmt. Autonomie mußte sowohl erkämpft werden gegen die Engstirnigkeit früherer Auftraggeber wie gegen die repressive Toleranz heutiger Kunstinstitutionen. Der Fehler liegt in der zu großen Allgemeinheit der aufgestellten Behauptungen. Die Autorin unterläßt es z. B., mögliche Gegenströmungen in der Kunst des 20. Jahrhunderts zu untersuchen, Beckmann und Dix, Matisse, Giacometti, auch Kokoschka usf. Als hätte es nur abstrakte Malerei in theosophischer Absicht gegeben! Umgekehrt verfällt sie bei der Renaissance in den 19.-Jahrhundert-Irrtum, ihr Wesen in der Loslösung von der Religion zu erblicken. Mit viel mehr faktischer Berechtigung hat Hegel von der Renaissancemalerei gesagt, daß sie die Religion „im Elemente des Sinnlichen zur Klarheit bringen“ wolle. Keine einzige der großen Errungenschaften der Malerei ist unabhängig von der Auseinandersetzung mit der christlichen Heilsbotschaft entwickelt worden. Die Verfahrensweisen der Kunst sind weder prinzipiell rational noch sind Kunstwerke verifizierbar. Die immanente Vernunft des Kunstwerks manifestiert sich in der Fähigkeit der Selbsterklärung, in einer nachvollziehbaren inneren Folgerichtigkeit, die zugleich Modelle für Welterklärung gibt. Die Selbsterklärungsmacht eines Renaissancebildes beruht auf narrativen Bildern und narrativen Strukturen, die durch die Darstellung sich verhaltender menschlicher Individuen explizit werden. Nun ist das — gewissermaßen tragische — Problem einer Kunst, die auf das Niveau der Selbst- und Welterklärung durch menschliches Verhalten im kontinuierlichen Gefüge des perspektivischen Bildes gekommen ist, daß das sinnlich Wahrnehmbare am Tun der Menschen in den modernen Gesellschaften immer weniger erklärt. Am meisten erklärt es dort, wo die Verhältnisse überschaubar und persönlich sind — also in Gesellschaften, in denen Ritus, Mythos und Religion das Alltagsleben durchdringen. Diese Mythosbindung der ästhetischen Vernunft, wodurch sie immer an das Irrationale anstreift, ist das eigentliche Problem, an dem Hilde Zaloscer vorbeischreibt. Im Horizont dieser Problematik läßt sich die Doppeltheit von anmaßendem Symbolismus und Verzweiflung über den eigenen Bedeutungsverlust in der Kunst des 20. Jahrhunderts immer noch besser verstehen, und daher ist es verfrüht, den Begriff der Kunst als Mittel der Erkenntnis der heutigen Formen der Kunstproduktion zu verabschieden. Hilde Zaloscer: Visuelle Beschwörung, autonomes Kunstwerk, Ideograph. Eine Begriffserklärung. Wien: Böhlau Verlag 1997. 147 S. und 42 SW-Abbildungen. 27