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1993 — ein neues Buch liegt auf meinem Schreibtisch. Sein Titel lautet: „Ein ewiges Dennoch: 125 Jahre Juden in Salzburg“ (Böhlau Verlag), herausgegeben von Marko M. Feingold, dem Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde Salzburg. Ich blättere, stoße auf einen Aufsatz unserer Helga Embacher mit dem Titel „Jüdische Flüchtlinge aus Osteuropa“ und auf ein mich elektrisierendes Foto einer Lagerszene — Juden, Baracken, Berge, Kohlensäcke. Bildunterschrift: „DP-Camp in Puch bei Hallein“. In meinem Geburtsort? Dort, wo am Rande mein Elternhaus steht und ich aufgewachsen bin? Die Bildunterschrift sollte sich später zwar als unrichtig herausstellen, aber das war natürlich im Augenblick irrelevant. Plötzlich sehe ich mich als kleinen Buben, der immer „da hinüber“ geschaut und vom Vater gewarnt wird, nur ja nicht „da hinüber“ zu gehen - „das ist gefährlich“. Erinnerungen an dunkle Gestalten, Nebel im Auwald an der Salzach, 15 Kilometer südlich der Landeshauptstadt — Gruseligkeit. Das Gestern ist plötzlich Gegenwart — Geräusche, Gerüche, Bilder -, aber ich weiß nichts — Jahrgang 1950. Ich rufe den SPÖ-Bürgermeister der Gemeinde Puch bei Hallein an, einen Freund, der seit Jahrzehnten selbst mit seiner Familie auf dem Gelände des ehemaligen Lagers wohnt, frage ihn über sein Wissen — fast nur Leerstellen! „Morgen haben wir Kulturausschußsitzung, komm‘ und erzähl‘, was Du Dir denkst!“ Ich komme und erzähle. Es sollte daraus eine „Dorfchronik‘ mit dem Titel „Puch bei Hallein: Geschichte und Gegenwart einer Salzburger Gemeinde‘‘ werden, wissenschaftlich betreut und zum Leben erweckt von einem Kollegen aus dem Institut für Geschichte an der Universität Salzburg, Gerhard Ammerer. Ganze 748 Seiten sind es geworden, „natürlich“ im Eigenverlag erschienen — wen interessiert das schon, die umfassende Geschichte eines kleinen Fleckens an der Westbahnstrecke, in dem seit Ende 1943 ein Arbeitslager bestand, dessen ca. 1.000 Insassen (Polen, Russen, Ukrainer, Franzosen, Tschechen, Italiener, Griechen) in den Halleiner Grillwerken Rüstungsgüter für die Wehrmacht herzustellen hatten und bei Bauern der Umgebung arbeiten mußten. Im Mai 1945 schlugen viele von ihnen das Lager kurz und klein und wollten sich auch an den NS-Bonzen des Ortes rächen. Nur dem mäßigenden Einfluß eines französischen Offiziers, der als Inhaftierter über die Jahre hinweg als Lagervertrauensmann tätig war, war es zu verdanken, daß Blutvergießen vermieden werden konnte. Bis 1956 sollte dann das Fliichtlichtslager ,,Aufeld“ (ca. 900 Personen: Ungarn, Kroaten, Ukrainer, sog. Volksdeutsche, jiidische Vertriebene aus dem Osten) auf dem Gelände des ehemaligen Arbeitslagers existieren. Die amerikanische Besatzungsmacht vermutete auch ehemalige SS-Angehörige und NSDAP-Mitglieder im Lager, die sich auf diese Weise der Registrierung zu entziehen versuchten. Jetzt erst begreife ich, daß mein Vater ganz auf Linie mit den Gemeindebehörden war, als er mich warnte. Denn: „Den Kindern und Jugendlichen wurde ausdrücklich verboten, sich in die Nähe des Camps zu begeben, weil dies angeblich zu gefährlich war.‘” Aber warum wußte ich bis zu meinem 43. Lebensjahr nichts von den jüdischen Flüchtlingen in Puch, obwohl seit 1947 ca. 1.000 jüdische DPs, hauptsächlich aus Polen und aus der Ukraine, im Pucher Lager waren? Schweigen darüber eh und je. Freilich, schon im November 1948 wurden „die letzten jüdischen Bewohner des Pucher Lagers nach Hallein verlegt, um 28 von dort in den im Mai gegründeten Staat Israel auszuwandern. Puch wurde ein Durchgangslager für osteuropäische Flüchtlinge.‘ Aber warum wurde nichts erzählt über die vielen Konflikte zwischen den jüdischen DPs und den Gemeindebewohnern und warum nichts über das für alle, Einheimische und Lagerinsassen, offenbar sehr attraktive Kino im Judenlager — Westernfilme? Und jetzt erst kann ich mir die Angst meines Vaters erklären, seinen Buben nur ja nicht das Lagergelände erkunden zu lassen. Denn nachdem im Herbst 1949 das Lager endgültig den österreichischen Behörden übergeben worden war, hatten es die Pucher immer wieder mit unangenehmen Erfahrungen zu tun: Messerstechereien, Raufereien, Diebstählen. Dafür wurden gerne tschechische Roma, die seit dem Sommer 1950 ins Lager kamen, verantwortlich gemacht — Anti-Roma-Unterschriftenaktionen wurden initiiert. Nicht zuletzt Angst und Vorurteile ließen solche Zuschreibungen zu. Was mit dem Telefonanruf 1993 begonnen hatte, ist mit der Gemeinde-Chronik nicht zu Ende. Es gibt eine spannende und erfreuliche Fortsetzung: Die Pucher Jugend braucht einen Platz zum Skaten. Wo? Auf dem Gelände des ehemaligen Arbeits- und Flüchtlingslagers, von dem man inzwischen aufgrund der Recherchen im Zuge der Arbeiten zur Pucher Gemeinde-Chronik besser Bescheid weiß, wird Auwald gerodet, Asphaltierungsarbeiten sollen die Gegend zupflastern. Aber da gibt es auch noch einige Grundfesten der Baracken und unter der Erde einige Kämme, Geschirr etc., Knochen auch? Nein, Umgraben und Aufdecken ist der Gemeinde und dem Salzburger Landesarchäologen denn doch zu teuer. Das war kein Vernichtungslager, sondern „nur“ ein Arbeitslager. Was macht der gelernte Österreicher, wenn er sich noch einen Rest von historischem Bewußtsein und Anständigkeit erhalten hat? Er macht eine Gedenkstätte, lädt einen ortsansässigen Künstler — Günther Stanzer — ein, diese zu gestalten und schlägt eine Einweihungsfeier vor. Mit Schützenaufmarsch und Blaskapelle? Auch Kameradschaftsbund? Nein, das gerade nicht, sondern diesmal weniger pompös und sogar mit anschließender „Erster Pucher Geschichtswerkstatt‘‘. Wem kann so etwas einfallen? Gerhard Ammerer natürlich, dem intellektuellen Zuzügler. So geschieht es auch. Am 23. Oktober ist es so weit. Ca. 50 Leute sind gekommen — immerhin. Dem bekannten Salzburger Journalisten Dr. Clemens M. Hutter wird eine Ansprache zugetraut. Diese ist auch voll von harten Fakten, Zahlen und Statistiken, aber warum fällt dem Redner zum Abschluß nur ein rhetorischer Allerweltssatz ein, der ausgerechnet aus der Feder des Kunsthistorikers und „Verlust der Mitte“-Schreibers Hans Sedimayr stammt? „Nur die Beschäftigung mit der Vergangenheit lehrt uns, was vergänglich ist und was nicht.“ Ungute Gefühle bleiben. Inzwischen waren Neuwahlen - ein neuer Bürgermeister ist im Amt. Anmerkungen 1 .Vgl. Norbert Ramp: Die Nachkriegszeit (1945-1955). In: Puch bei Hallein. Geschichte und Gegenwart einer Salzburger Gemeinde. Hg. von Gerhard Ammerer. Puch bei Hallein: Eigenverlag 1998, S. 193. 2 Ebenda, S. 193. 3 Ebenda, S. 196.