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chungen und Übersetzungen wurde noch nicht einmal begonnen. Die schlechte Kontinuität der deutschen und österreichischen Nachkriegsliteratur, in der nach wie vor kulturelle Größen der NS-Zeit den Ton angaben und die gebrochene Beziehung zu ihrem jüdischen Erbe von Autoren wie Jean Améry, Hilde Domin oder Wolfgang Hildesheimer boten, wie Lamping ausführt, nicht die besten Voraussetzungen für die Etablierung eines jüdischen Diskurses. Die deutsch-jüdische Literatur, wie sie Franz Kafka, Alfred Döblin oder Walter Mehring repräsentierten, war traditionslos geworden; ihre Nachfolger wie Paul Celan oder Manés Sperber blieben aus dem literarischen Diskurs ausgeschlossen und waren im Exil und dadurch marginalisiert. Die neue deutsch-jüdische Literatur jüngerer Autoren, die Lamping am Ende nur kurz streift, versucht nicht mehr, an die früheren Traditionen anzuschließen, und schreibt, bewußt als die Literatur einer Minderheit, in einem luftleeren Raum. Evelyn Adunka Stephan Braese, Holger Gehle, Doron Kiesel, Hanno Loewy (Hg.): Deutsche Nachkriegsliteratur und der Holocaust. Frankfurt, New York: Campus Verlag 1998. 417 S. Paul O’Doherty: The Portrayal of Jews in GDR Prose Fiction. Amsterdam, Atlanta: Rodopi Verlag 1997. 348 S. (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur. Band 126). Dieter Lamping: Von Kafka bis Celan. Jüdischer Diskurs in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998. 206 S. Die Tiroler Literatur im Spiegel In Tirol werden nicht nur vom Einsturz bedrohte Berge und Schrofen mit der Video-Camera beobachtet, sondern in diesem Land entstehen auch viele Bücher - eine Tatsache, die dem Klischee vom wortkargen Tiroler eindeutig widerspricht: „Statistisch gesehen verfügt jede mittlere Ortschaft in Tirol über eine Schriftstellerin, einen Schriftsteller.“ (Literatur Hauskalender). Um der Publikations-Flut beizukommen, bedarf es schon eines umsichtigen und tüchtigen Rezensenten. Das Land Tirol hat den Helmuth Schénauer (,,Hesch6“), der aber — und das macht die Sache spannend und einzigartig — nicht hauptberuflich, etwa als Germanist und Universitätsprofessor, rezensiert, sondern als Autor, der selber an der Entstehung von Büchern beteiligt ist, was aber nie dazu führt, daß er seine eigenen Bücher rezensiert, obwohl er sonst garantiert alles wahrnimmt, selbst jene Bücher, die eine Tiroler Buchhandlung nie von innen sehen. 50 Darüber hinaus bringt Heschö das Kunststück fertig, daß er aus seinen Rezensionen wiederum ein Buch macht, daß nun wieder rezensiert werden muß. Was aber leichter gesagt oder gewollt als getan ist, umfaßt doch diese „Anthologie“ mit dem Titel Rotz und Wasser Rezensionen von über 140 Büchern. So entsteht also Metaliteratur über Metaliteratur (oder Metaliteratur über Meterlite” ratur?). Heschös Buchbesprechungen haben es in sich. Beim einem dieser Sätze wie: „Genaugenommen sieht die Gesellschaft in jedem Schriftsteller einen Behinderten, sie geht gnädig lächelnd mit ihm um, kauft manchmal ein Büchl und wendet sich anderen Dingen zu“ (Helmut Schiestl: Hirnkrebs), ist mir — La vita é bella von Roberto Benigni eingefallen, bei dem sich auch alle moralisch integren Menschen die Frage gestellt haben: Darf man denn tiber dieses Verbrechen so einen Film drehen, darf man, selbst wenn man „Jude“ ist, an diese Greuel sondergleichen mit einem derart bizarren Humor herangehen etc. — Aber einem Kunstwerk gegenüber stellt sich zuerst die Frage der Form und Qualität - und nicht der Moral. Mit Heschös Buchbesprechungen ergeht es dem ernsthaften Kritiker möglichweise ähnlich wie mit dem unmoralischen italienischen Film: Darf man so über Bücher schreiben? — Da gibt doch einer nur vor, über dieses und jenes Buch zu schreiben, und macht sich nur seinen Spaß und schreibt immer bloß seine verrückten Satiren über sich selbst und seine kuriose Weltwahrnehmung und über Tirol (eine Form von Rezension also. die eher etwas über den Verfasser und weniger über das Buch aussagt)? Ob man so darf, soll jeder für sich selber entscheiden. Ich sage: Ja, gewiß darf man (in diesem Fall er), wenn dabei Gutes und G’scheites rauskommt, und Heschös Buchbesprechungen sind zumeist Sprachkunstwerke en miniature, kaum länger als eine Buchseite und darüber hinaus winzige Nadelstiche ins Gesäß und Gehirn eines jeden Kritikers, der seitenlange Abhandlungen über den vor sich liegenden Wälzer ausbrütet (so wie z. B. ich selbst). Außerdem versteht sich Heschö vor allem als ein Anwalt der Literatur, advocatus diaboli, und nicht als ihr kritisierender Vernichter: aus dieser edlen Haltung heraus denunziert er keine einzige Autorin, keinen einzigen Autor, und wenn ihm ein Buch einmal weniger gefällt, bemängelt er eher das Konzept des Buches oder die Herausgeber (Petra Nachbaur/Sigurd Paul Scheichl: Literatur über Literatur. Eine österreichische Anthologie) als die AutorInnen. In seiner Rezension über die betulich-gutgemeinte illustrierte Norbert-C.-Kaser-Kinderbuchausgabe eines für seine religiöse Ratgeber-Programmatik bekannten Verlags drückt er seine Kritik wie folgt aus: „Zum Klassiker gehört neben einer Gesamtausgabe seiner Werke auch ein Kinderbuch, das den guten Mann auf den Boden der Kinderaugen herunterholt. Fontane für Fratzen, Goethe für Glubschaugen, kaser für Kids. ... Schon der Frontispitz schaut aus wie drei Dutzend unbenutzte Kondome. Aber nein, weil es ein Bilderbuch ist, sind es natürlich Schlangen, die tun sich selber in den Schwanz beißen! ... Wie hören eigentlich Züge auf? — Indem sie in einem Endbahnhof fahren oder unterwegs alle Waggons verlieren. kaser dürfte mit der Zeit alles verlieren, wenn sein Zug noch länger unterwegs ist.“ Heschö, selbst Verfasser origineller Lyrik (Graukas, 1997, und Entengedichte, 1998), läßt keinen Gedichtband aus. So sind sie alle rezensiert, die Bücher von Hans Aschenwald, Hans Augustin, Christoph W. Bauer, Herbert Edenhauser, Armin Moser, Martin Rusch, Franz Gruber, Hans Haid, Volkmar Hauser, Heinz D. Heisl, Barbara Hundegger, Konstantin Kaiser, norbert c. kaser, MarieThérése Kerschbaumer, Toni Kleinlercher, Gerhard Kofler, Sylvia Krismayr, Sepp Mall, Klaus Menapace (1990 mit 35 Jahren verstorben), Gerald Nitsche, Anna Olivia, Roman Santeler, Walter Schlorhaufer, Elias Schneitter, Matthias Schönweger, Raoul Schrott, Ingeborg Teuffenbach (1992 verstorben), Franz Tumler, Rudolf Vogl, Peter Vonstadl, Haimo Wisser — und all die anderen tapferen, mehr oder weniger berühmten Tiroler Prosa-Dichter. Wer wissen möchte, wie die Tiroler Schriftstellerinnen und Schriftsteller aussehen, wie sie sich anstellen, wenn sie fotografiert werden, welche Bio-Bibliographien sie aufweisen und was sie dichten, wenn sie nur ein paar Zeilen zur Verfügung haben, oder wer einfach nur einen inspirierenden Kalender braucht, der soll sich schleunigst den gediegen gestalteten, vom „Literaturhaus am Inn“ mitherausgegebenen Kalender besorgen (hervorragend die einfühlungsreichen Schwarz-Weiß-Fotos von Monika Zanolin!). Richard Wall Helmuth Schönauer: Rotz und Wasser. Materialien zur Tiroler Gegenwartsliteratur 1988-1999. Innsbruck: Edition Löwenzahn/StudienVerlag 1999. 263 S. ÖS 298,— Erika Wimmer (Hg.): Literatur Hauskalender 2000. Fotografie: Monika Zanolin, Grafische Ausstattung: Circus. Innsbruck: Skarabäus/StudienVerlag. Ca. 60 Bl. OS 148,Anmerkung: Gegen die sonstige Gewohnheit von MdZ, die Literatur der Gegenwart (die deshalb nicht unbedingt „Gegenwartsliteratur“ sein muß; aber welchen Literaturwissenschaftler interessieren schon sprachliche Differenzierungen) zwar aufmerksam zu verfolgen, aber publizistisch nicht wahrzunehmen, wird diese Besprechung pour l’amour de l’origine eines Herausgebers ausnahmsweise veröffentlicht. Es ist so, wie Raoul Schrott bei einer Lesung österreichischer Lyriker in München zu mir sagte: „Ein Tiroler muß sein!“ K.K.