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Zum Erscheinen dreier Bücher über Egon Erwin Kisch Es ist, als müßte man ein halbes Jahrhundert und manchmal noch viel länger warten — bis man Persönlichkeiten ausgraben, der Vergessenheit entreißen kann, die aus mehr oder weniger eingestehbaren Gründen unter den Schlackebergen der jüngsten Geschichte verscharrt liegen. Wie könnte man sich sonst erklären, daß ein Schriftsteller wie Egon Erwin Kisch (im folgenden: EEK), weltweiter Berichterstatter, Humanist, militanter Antifaschist und Kosmopolit so lange in einem Schrank weggeschlossen war, in dem „man“ die Unangepaßten verbannt, die politisch Inkorrekten, die Außenseiter, anders ausgedrückt jene, die „law and order“ untergraben, die Rebellen. Alle diese Attribute hat EEK in dem einen oder anderen Augenblick seines Lebens verdient. Und seit einigen Jahren gibt es nun plötzlich mehrere Publikationen über Leben, Abenteuerund Werk von EEK, bewarben sich im Jahre 1998 342 Autoren, deren Artikel in 85 Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind, um den vom ,,Stern“ 1977 ins Leben gerufenen „Kisch-Preis“, und widmet ihm ein junger österreichischer Wissenschaftler nacheinander zwei bemerkenswerte Bände, über die ich in einem Aufwaschen berichten werde. Da die beiden zur Debatte stehenden Werke von Marcus G. Patka sich eng aufeinander beziehen, wird sich mein Bericht zwangsläufig „überschneiden“, so wie auch der Inhalt dieser beiden Bücher. Bezüglich des ersten, der Stationen, ist es mir unmöglich, meinen Kommentar ins Korsett einer wissenschaftlichen Systematik zu schnüren, so bunt und vielfältig sind die Gesichtspunkte. EEKs schillernde, wandelbare Persönlichkeit springt uns in den acht Kapiteln, die Patka dem guten Kisch widmet, buchstäblich ins Auge. Dem Guten deshalb, weil jenseits von EEKs politischem Engagement in jedem Moment seines Lebens seine tiefe Menschlichkeit, sein unsäglicher Humor und sein Sinn für Freundschaft sichtbar werden: „Wie ist es Ihnen gelungen, Ihr abenteuerliches Leben zu meistern?“ EEKs Antwort: „Ich stamme aus Prag, ich bin Tscheche, ich bin Deutscher, ich bin Jude, ich bin Kommunist, ich komme aus einem guten Haus — etwas davon hat mir immer geholfen.“ Einwand meinerseits: War er Deutscher? Das muß untersucht werden und dann werden wir weitersehen. Aber bevor ich diesbezüglich streitbare Anmerkungen mache, möchte ich ein allgemeines Lob aussprechen. Die Stationen, die Patka uns vorführt, sind ein wahrer Abriß, eine minutiöse Beschreibung der Gegenkultur einer Epoche, einer subversiven Welt vervollständigt durch eine Enzyklopädie des deutschsprachigen Exils, welches ab den 30er Jahren repräsentativ war für das „andere Deutschland“ und auch für das „andere Österreich“. Und weil es gegen die Barbarei von Hitlers Herrschaft auftrat, hat dieses Exil in seinem unaufhörlichen Kampf, in dem es die Verbrechen des Dritten Reiches vor aller Welt anklagte, den Deutschen und Österreichern die Ehre gerettet. Die Vertriebenen haben dem verlogenen Wahnbild, einer Fata morgana von Illusionen, welche Goebbels der Welt aufdrängen wollte und deren demagogische Spiegelung bis heute noch gewisse Gemüter verwirrt, die Maske heruntergerissen. Auch wenn ich für die Stationen schwärme, gibt es dennoch ein Kapitel in diesem Werk, demgegenüber ich Vorbehalte habe: und zwar ist dies das erste, „Kisch in der Wissenschaft“ betitelt. Hier wird nicht klar, um welche Wissenschaft es sich handelt und ich selber bin über den Stand der Diskussion über EEKs Stellenwert in der großen Welt der Literatur nicht wirklich im Bilde. Dennoch erscheint es mir als ein Ding der Unmöglichkeit, EEK auf den Bereich des Journalismus zu beschränken. Und es hat ja auch seine Gründe, daß er sich zeitlebens dagegen verwahrte, mit dem Titel eines seiner berühmtesten Bücher gleichgesetzt zu werden: „Der rasende Reporter“. Patka hätte die Gelegenheit ergreifen müssen, diesen Titel genauer zu analysieren oder er hätte wenigstens eine Bemerkung machen können, indem er sich auf EEKs Ablehnung beruft, der ja selber die Verbindung der Wörter „rasend“ und „Reporter“ zurückwies. Er war der Ansicht, daß dieser Ausdruck weder ihm als Person noch seinem Werk gerecht werde. In der Tat: was soll man zu diesem Begriff „rasend“ sagen? Es ist ein so mehrdeutiges Wort, daß man darin sowohl das finden kann, was man will, als auch das, was man nicht finden will. „Rasend“ kann in zwei Richtungen interpretiert werden, die eine bezieht sich auf das psychische Bedeutungsfeld, die andere auf das der Bewegung. Das erste Feld kann gleichzeitig bedeuten: wütend, verbissen, leidenschaftlich, wild, toll, tobend, entfesselt. Im Sinne der Bewegung kann „rasend“ bedeuten: eilend, schnellst, blitzartig. Abschließend meine ich, daß man — wenn man sich „modern“ geben will — EEK in Anbetracht seiner zahlreichen Reisen durch die ganze Welt den Titel eines „Turboreporters“ zukommen lassen könnte. Vielleicht hätte er diese Bezeichnung sogar gebilligt. Jetzt komme ich auf die Frage zu sprechen, die mir am Herzen liegt: inwieweit bin ich ermächtigt, über Werke, die EEK gewidmet sind, in einer Zeitschrift zu berichten, die sich im Grunde nur mit österreichischen Belangen in allen ihren Dimensionen beschäftigt? Wäre es Kulturimperialismus, würde ich diesen Schriftsteller aus Prag dem österreichischen Kulturerbe einverleiben? Patka ist um zwei Generationen jünger als ich und stellt sich auch die Frage: ist EEK Tscheche, Deutscher, Österreicher? (Reporter, S. 274) Seine Antwort: EEK ist mitteleuropäischer Internationalist. Die Frage ist richtig gestellt, die Antwort nur teilweise treffend. EEK war sicherlich Internationalist. Ich würde allerdings weitergehen: da er sich nun einmal in allen Kontinenten herumgetrieben hat, die kulturellen Reichtümer so vieler Völker in sich aufgesogen hat, ist EEK ein richtiger Kosmopolit im besten Sinn des Wortes geworden, ein Weltbürger. Patka aber stellt die Bedeutung, die der Duden gibt, in den Vordergrund; demnach ist ein „Internationalist vom Willen zu einer übernationalen Vereinigung geprägt“; und das heißt ein bißchen schnell zur Tagesordnung übergehen im Namen eines Europa (welches Patka in jugendlicher Begeisterung anruft), das EEK sicherlich mit einem kritischen Blick und skeptisch betrachtet hätte. Wenn Patka behauptet, daß das Vorbild EEK auch Erben braucht, damit das Experiment Europa gelingen möge, ist er recht ungenau. Ohne den Toten etwas in den Mund legen zu wollen, kann man behaupten, — ohne sich besonders der Gefahr einer Täuschung auszusetzen — daß die Erben EEKs eher bei einem Heinrich Böll, Günther Grass, Günter Wallraff oder auch einem Karl-Markus Gauß oder einem Erich Hackl anzusiedeln sind, oder bei anderen ähnlicher Gesinnung. Also, EEK war sicherlich ein Internationalist, der sich nach der Brüderlichkeit der Völker in ihrer Verschiedenheit sehnte, aber nicht im Sinne eines über einen gleichen Kamm geschorenen Denkens gewisser hypermoderner Internationalisten, die der political correctness einer globalen Weltsicht frönen, welche die Auflösung der historisch entstandenen Nationen in einer verschwommenen europäischen, amerikanischen, südamerikanischen oder sonstigen Übernation predigen. Aber zurück zur Sache: Im letzten Kapitel des Reporters bietet uns Patka einen spannenden Abriß über Person, Leben und literarischen Werdegang EEKs, mit Begeisterung (die ich nicht in allen Punkten teile) und Witz geschrieben, die engen akademischen Einteilungen überschreitend und Kischs Reportagen in höchstem Maße lobend. Sowohl in den Stationen als auch im Reporter werden zwei Lebensentwürfe deutlich: der österreichische und der kosmopolitischinternationalistische: Von 1885 bis 1918 war EEK Bürger der untergehenden, aber immer noch existierenden Habsburgermonarchie und die Berührung mit Österreich beeinflußte deutlich sein jüdisch-pragerisches Leben, das ist nicht zu leugnen. So erinnert sich EEK in seiner „Ode an die Nikolander“: „Tot bist du, graubärtiger Direktor, dessen Stentorstimme das ganze Institut erzittern ließ ... und heulte, daß wir Österreicher und keine Preußen seien.“ (Reporter, S. 23) Sofort nach der Matura meldete sich EEK als Freiwilliger für ein Jahr zum Militärdienst und verließ diesen als Leutnant. Da bei der Teilung in zwei Reichshälften 1867 (Entstehung der Doppelmonarchie, Musils Namen „Kakanien“ =k.u.k. als Zeichen der Gesamtstaatlichkeit) die Armee, die Finanzen und die Auswärtigen Angelegenheiten gesamtstaatliche Aufgabenbereiche geblieben wa53