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Deutschland war nach dem 30. Januar 1933 ein Land, aus dem man nur floh — etliche kehrten auch, enttäuscht und verzweifelt, aus dem Exil wieder zurück, um Opfer ihrer Illusionen oder ihres Heimwehs zu werden - die meisten Nachbarländer waren erst Asyl, dann Etappe für weitere Flucht oder sie wurden tödliche Falle. Österreich spielte die Doppelrolle in besonderem Maß. Ein literarisches Fragment, das bislang unveröffentlichte historische Dokument aus einer exemplarischen Existenz der Emigration, deren erste Station Wien war, soll verdeutlichen, worum es geht, wenn wir Österreich in den nächsten drei Tagen in den Mittelpunkt unserer Jahrestagung stellen. Österreich einmal als Exilland, als Zuflucht, Österreich als gefährdete Insel zwischen den faschistischen Diktaturen und Österreich als Land, aus dem man fliehen mußte, wer durch die Ideologie des Nationalsozialismus gefährdet war, nachdem Hitler die freudige Zustimmung der Mehrheit zur Parole „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ beim handstreichartig durchgeführten „Anschluß“ im März 1938 durchgesetzt hatte. Jetzt existierte Österreich als Nation und als Projekt einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft bis auf weiteres nur noch im Exil (freiheitlich möchte ich im Wortsinne verstanden wissen, nicht im Sinne falscher Etikettierung für ganz bestimmte parteipolitische Ziele und Bestrebungen, die mit Freiheit und Freisinn wenig zu tun haben). Hier also das Dokument. Dreimal auf der Flucht Aufbruch der Nation Ich hatte das Hotelzimmer mit einem Kabinett vertauscht, das eine Schneiderin vermietete — und sehnte mich nach einem Heim. Ich hatte zahlreiche Bekannte besucht — und hoffte, Freunde aufzufinden. Vom Fenster jenes Kabinetts sah man in eine enge Gasse, auf kahle graue Mauern eines Bürohauses und auf die schwarzen Hinterwände der Hofkirche. An Sonntagen und Feiertagen, die Glocken läuteten und ein ganz schmaler blauer Himmelsstreifen zwischen den Dächern verkündete, daß draußen Frühling war, zogen die Gläubigen, vor allem Frauen, dunkel und altmodisch gekleidet, in gespenstiger Prozession zum Gottesdienst. An den Stationen der Straßenbahn standen zu gleicher Zeit in kurzen Röcken oder Hosen, mit bloßen Köpfen, Rucksäcken, sehr schwere Schuhe an den Füßen, Symbole eines neuen Lebens, Knaben und Mädchen und Erwachsene, die in die Felder, in den Wald oder zu langen Wanderungen am Donau-Ufer fuhren. Die einen wie die andern wußten, zu welchem Kreise sie gehörten, an was sie denken, glauben konnten, worauf sie warten, bauen sollten. Sie hatten ihre Existenzen oder zumindest eine Vorstellung, wie sie sich ihre Existenzen gestalten wollten. Ich wußte nichts. War ich ein Heimkehrer? Ein Flüchtling? Ein Bettler? Ein Erwerbsloser? Ein junger Mensch mit Zukunfts-Chancen? Arierin? Jüdin? Ich stand zwischen den Rassen und den Klassen. In Deutschland der Verhaftung kaum entgangen, in Österreich beheimatet, aber als lange Jahre im Ausland Lebende jedweden Anspruch auf Hilfe und auf Unterstützung verlustig, mit leerem Magen und leerem Portemonnaie, doch immerhin noch guten Kleidern, freidenkerisch erzogen, halbfertige Studentin einer Anstalt, die nun in eine Führerschule der Sturmstaffeln verwandelt war und keine Parallele in Österreich besaß, ohne Beschäftigung und ohne Aussicht auf eine Anstellung, mit großen Sehnsüchten, wirren Empfindungen, einander widersprechenden Gefühlen, wußte ich nicht, an wen mich anzuschließen, was zu tun. Theoretisch standen uns relativ sehr jungen Leuten wohl alle nur erdenklichen Berufe offen — praktisch hingegen waren uns auch die niedrigsten verschlossen. Gewiß. Man lebte nicht im III. Reich. Das war sehr viel oder doch etwas. Aber man lebte immerhin in einem Diktaturstaat. So lange hatte man es nicht geglaubt, bis am Morgen des 1. Mai Kanonen vor der Oper standen, die Straßen mit Stacheldrahtverhauen abgesperrt und Dutzende Maschinengewehrläufe auf alle die gerichtet waren, welche nach dem Verbot des Marsches durch Wien, jener jahrzehntelangen Tradition, mit roten Nelken in den Knopflöchern, roten Krawatten, roten Blusen und roten Sommerkleidern über die Lastenstraße, Babenbergerstraße, Mariahilferstraße, bummelten. So lange hatte man es nicht gewußt, bis am Abend des 12. Feber 1934 diese Kanonen, nebst Minenwerfern, Tanks und Feldgeschützen in Wien, in Linz, in Graz, in Steyr, in Bruck, in Judenburg und in Holzleithen gegen die Wohnhäuser gerichtet wurden; der Schlingerhof, der Goethehof, der Karl Marx-Hof, F.A.C.-Hof, das Arbeiterheim Ottakring, die Floridsdorfer Bahnstation und viele andere Gebäude zerschossen waren; Leichen von Schutzbündlern und Zivilisten am StraBenrand im Rinnstein lagen; Verwundete — auch Frauen, Kinder, Greise - sich blutend und, in untragbaren Qualen, brüllend unter den Trümmern krümmten; die Zuchthäuser, Konzentrationslager, Gefängnisse und Not-Arreste gefüllt und überfüllt waren; unzählige Verhaftete bei angeblichen Fluchtversuchen erschossen wurden; Fememorde von da und dort gemeldet wurden; und der Scharfrichter Johannes Lang in sieben Fällen sein grauenhaftes Handwerk übte; und Grabesstille sich über Österreich verbreitete. In dieser Stille schlichen die Aufständischen, Flüchtigen, zu Schrebergartenhütten, Kellern und sicheren Quartieren, sich zu verstecken. Sie kamen in der Dämmerung und kamen auch zu mir. Wir richteten uns ein und wachten. Denn niemand schlief in diesen Nächten. Wir tranken Tee und plauderten und horchten. Bärtige Männer mit ungeschickten Händen nähten Verkleidungen für ihre Flucht. Magere Burschen, fast noch Knaben, bereiteten die Mahlzeiten und wuschen das Geschirr. Wo ich ein Heim gefunden hatte, fanden sie eine Unterkunft in jener winzig kleinen Wohnung im Hause Taborstraße 3. Zu Neujahr war sie frei geworden, ich hatte sie gemietet und — mit Koffern, Teppichen und einigen geliehenen Stücken — zwar notdürftig, doch hübsch möbliert. Zu Neujahr auch war eine Stelle im großen Warenhaus K. Neufeld vakant geworden. Ich hatte sie bekommen und — mit Aufmerksamkeit allen Wünschen der 5