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reich versammeln. Franz Werfel und Joseph Roth waren die federführenden literarischen Protagonisten dieser ÖsterreichVorstellungen. Im Unterschied dazu verfochten die Sozialisten, ihrer an der demokratischen und nationalen Revolution von 1848 orientierten Tradition folgend, lange Zeit eine gesamtdeutsche Konzeption: der Anschluß sollte prinzipiell beibehalten werden, das nationalsozialistische in ein sozialistisches Deutschland umgewandelt werden; die österreichische Nation und die Unabhängigkeit Österreichs wurden ebenso abgelehnt wie die Kooperation mit Kommunisten und Legitimisten. Die Nachkriegsvorstellungen knüpften an die Tradition des Roten Wien und des Austromarxismus der Ersten Republik an; insbesondere für die Bereiche Schul- und Erziehungswesen, Wirtschafts- und Finanzpolitik, Verfassung sowie Entnazifizierung wurden Konzepte ausgearbeitet. Die in England während des Krieges nicht mehr aufrechtzuerhaltende Linie von der gesamtdeutschen sozialistischen Revolution wurde in die Losung einer europäischen Revolution umgeändert. In einer 1942 vom Londoner Büro der österreichischen Sozialisten und der Landesgruppe österreichischer Gewerkschafter in Großbritannien verbreiteten Erklärung hieß es: „... erstreben wir ein freies, autonomes, demokratisch-sozialistisches Österreich als Teil einer möglichst umfassenden demokratischen Föderation, die aus der antifaschistischen Revolution der europäischen Völker hervorgehen soll und die gegen kein einzelnes Land gerichtet sein darf.“ Oscar Pollak schlug für Österreich Neutralität und die Integration in eine internationale Friedensorganisation vor. Er meinte, daß auch die Sowjetunion in die europäische Gemeinschaft aufgenommen werden sollte, wenn sie den Stalinismus, die „bürokratische, terroristische Diktatur“, überwindet. Diese Konzeption wurde von den österreichischen Kommunisten in aller Schärfe als trotzkistisch, als Torpedierung des nationalen Befreiungskampfes und des Bündnisses der Alliierten abgelehnt. Es wäre mehr als vereinfachend, die Nachkriegsentwicklung in Österreich, insbesondere den vor sich gehenden Prozeß der Herausbildung eines Nationalbewußtseins als Teil der heutigen Identität, in einen direkten kausalen Zusammenhang mit den Vorstellungen von Exilgruppen zu bringen. Der Einfluß des Exils und der Exilanten im wiederstandenen Österreich war — mit Ausnahme der aus Moskau kommenden KPÖ-Führung - vorerst äußerst gering. Unmittelbar nach der Befreiung gaben Politiker der Vor-1934-Generation bzw. ehemalige Widerständler und KZ-Häftlinge den Ton an, während Exilanten meist nur unter größten Schwierigkeiten zurückehren konnten. Die wichtige Frage der Remigration ist für Österreich noch weniger untersucht als Exil selbst. In der Politik waren für das bürgerlich-konservativ-katholische Lager das Exil und die Exilanten so gut wie bedeutungslos; prominente Exilanten wie Ernst Rüdiger Starhemberg, Hans Rott, Josef Dobretsberger, Willibald Plöchl oder Ernst Karl Winter spielten nach ihrer Rückehr keine politische Rolle mehr. In der KPÖ nahmen Remigranten zwar führende Positionen ein, doch ging der Einfluß dieser Partei bald nach 1945 stark zurück. In der österreichischen Sozialdemokratie dominierten nach 1945 die im Lande verbliebenen, gemäßigt-rechten Kräfte; die Vertriebenen, die Austromarxisten und Revolutionären Sozialisten, waren — mit wenigen Ausnahmen wie der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung Oscar Pollak - nicht erwünscht, konnten teilweise nur unter großen Schwierigkeiten Fuß fassen. Der aus dem skandinavischen Exil zurückgekommene Linkssozialist Josef Hindels schildert in seinen Erinnerungen, wie ihm der Parteivorsitzende Adolf Schärf empfahl, nach Schweden zurückzukehren. Vertreibung und Holocaust hatten die Struktur der sozialdemokratischen Partei grundlegend verändert: an die Stelle der jüdischen Intellektuellen traten mehr oder weniger gewendete Nationalsozialisten. Der nach New York zurückgekehrte Otto Leichter sagte: „Ich passe in die Partei, wie sie sich nach 1945 entwickelt hat, nicht mehr hinein. Daher werde ich als Emigrant sterben.“ Die österreichische Politik orientierte sich nicht an den Exilanten, an NS-Opfern und Widerstandskämpfern; vielmehr bemühte sie sich um die weitaus größere Gruppe der ehemaligen Nationalsozialisten und Kriegsteilnehmer. Diese Kriegsgeneration dominierte daher das Nachkriegsgeschehen in Österreich. Die Vergangenheit — Nationalsozialismus, Widerstand, Verfolgung, Exil — wurde verdrängt. Der Sozialist Joseph Simon, der als Offizier der amerikanischen Besatzungsmacht bis 1955 sehr viel für Österreich geleistet hatte, beschreibt in seinen Erinnerungen, wie ihn die eigenen Genossen im Stich ließen und die Kommunisten ihn als Agenten Rockefellers karikierten, als er als Direktor eines verstaatlichten Betriebes als US-Emigrant angefeindet wurde. Auch Ernst Karl Winter, der aus dem US-Exil zurückkehrende Vorkämpfer der österreichischen Nation im katholisch-konservativen Lager, scheiterte bei dem Versuch, im akademischen Leben Österreichs Fuß zu fassen. Im Bereich Kultur und Wissenschaft, wo vielfach Nazis an die Stelle der Vertriebenen getreten waren, dachte man gleichfalls nicht an die Rückholung der Exilierten. Einzig der unorthodoxe kommunistische Wiener Kulturstadtrat Viktor Matejka bemühte sich. Zurecht ist in diesem Zusammenhang konstatiert worden, daß der endgültige Exodus von Künstlern und WissesnchaftlerInnen einen „enormen und nicht mehr korrigierbaren geistigen Aderlaß“ bedeutete. Ich kann hier nicht auf die objektiven Schwierigkeiten eingehen, die der Rückkehr entgegenstanden, z.B. die ursprüngliche Nichtberücksichtigung im Opferfürsorgegesetz, die Wiederverleihung der entzogenen Staatsbürgerschaft oder die heute wieder aktuelle Frage der Nichtrückstellung der 1938 arisierten 70.000 Wohnungen, was dazu führte, daß Rückkehrer in Hotels, Obdachlosenheimen oder Massenquartieren leben mußten. Der negativen Haltung von Politik und Bürokratie entsprach die antisemitisch gefärbte, gegen Remigranten gerichtete Stimmung in weiten Kreisen der Bevölkerung. Daß sich in Österreich trotzdem wesentliche Entwicklungen wie die Durchsetzung des österreichischen Nationalbewußtseins vollzogen, hängt nur zu einem geringen Teil mit Exileinflüssen zusammen; Ernst Fischer als erster Unterrichtsminister und Kulturtheoretiker, der Kreis um die Zeitschrift „Tagebuch“ und der das Vermächtnis des Österreich-Theoretikers Alfred Klahr weiterführende Franz Marek konnten in dieser Zeit des Kalten Krieges und scharfen Antikommunismus kaum über ihre Partei hinaus wirken. Weitaus stärker fielen die Tendenz, sich vom besiegten Deutschland abzusetzen, und - im Schul- und Bildungsbereich — der Rückgriff auf den Österreich-Patriotismus des Ständestaates ins Gewicht. Meines Erachtens begannen sich die positiven Einflüsse des österreichischen Exils erst viel später auszuwirken und bemerkbar zu machen, und zwar in der Ära Kreisky 1970 bis 1983. Es ist schon bemerkenswert, daß ein Vertriebener jüdischer Herkunft und Remigrant 13 Jahre Bundeskanzler war und dabei dreimal eine absolute Stimmenmehrheit erreichen konnte. Ich übersehe selbstverständlich nicht die Ambivalenz 9