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möchte ich doch in idealisierter Form, in unempirischer Reinheit drei Grundzüge der Neubestimmung des Patriotismus im Exil angeben: Erstens versteht sich der demokratisch-antifaschistische Patriot nun als Fürsprecher und Repräsentant der anderen, besseren Möglichkeiten seines Landes, der historischen Alternativen, die durch die Zerstrittenheit der demokratischen Parteien, die Zerrissenheit der Widerstandskräfte, wie immer, zunichte gemacht worden sind. Garant eines anderen, besseren Deutschland, eines wahren Österreich ist vor allem die große humanistische Kultur des Landes, die von den neuen Machthabern zerstört, in den Dreck getreten oder zur Unkenntlichkeit pervertiert in ihre Dienste genommen wurde. Zweitens stellt dieser Patriotismus den nationalsozialistischen Weltherrschaftsplänen und ihrer ideologischen Abstützung auf eine mystische Rassengemeinschaft des Blutes die Zuneigung zu einem konkreten Land mit seiner Landschaft, seinen Bewohnern und ihren Traditionen, Gebräuchen, Begabungen entgegen, bezieht sich also auf einen wirklichen und darum selbstregend auch beschränkten Zusammenhang von Erscheinungen und nicht auf etwas phantasmagorisch Gemeinsames, das koboldhaft und hinter der Erscheinungswelt am Werke sein soll. Drittens grenzt sich der antifaschistische Patriotismus entschieden von allen Spielarten des Chauvinismus ab, der Stolz auf die Leistungen und Errungenschaften des eigenen Landes soll nicht umschlagen in einen Dünkel nationaler Überlegenheit und in eine feindselige Abkapselung gegenüber anderen Völkern und Nationen. Vielmehr bedeutet Entwicklung des eigenen Landes wesentlich auch Aneignung zunächst fremder Errungenschaften, Eröffnung von Zugängen zu den Besonderheiten anderer Länder. Hier kehren Vorstellungen, die in der deutschen Klassik ein Johann Gottfried Herder, ein Johann Wolfgang Goethe mit Blick auf die damals offene Formung der deutschen Nation hegten, wieder, eine Dialektik der gegenseitigen Beförderung von Nationalismus und Kosmopolitismus, von Spezifität und Universalität, Vorstellungen, die uns heute, wo wir uns zwar gerne global, aber lange nicht international positionieren, fast schon exotisch anmuten mögen. Das Denken des deutschsprachigen Exils war in gewisser Hinsicht naiv, es fehlte die Auseinandersetzung mit den epochenmachenden Differenzierungen, die ein Antonio Gramsci in seinen „Gefängnisheften“ skizzierte, man vermißt- außer in einigen Ansätzen weltoffener literarischer Übersetzer wie des Ehepaars Arendt oder des London-Exilanten Joseph Kalmer — die Auseinandersetzung mit den literarischen und politischen Wortführern der kolonialen und halbkolonialen Länder. So blieb z. B. der 1936 in Shanghai gestorbene chinesische Schriftsteller, Essayist, Übersetzer Lu Hsün (in heute verbindlicher Transkription: Lu Xun, 1881-1936; ein Autor vom Range Franz Kafkas) selbst der Shanghai-Emigration (mit Ausnahme der schon 1933 nach Shanghai gekommenen Ruth Weiss) fast gänzlich unbekannt. Dabei hatte die von Lu Hsün 1931 in Shanghai mitbegründete und von der Kuomintang-Polizei grausam verfolgte „Liga linker Schriftsteller“ sich ausdrücklich mit den vom Nationalsozialimus Verfolgten solidarisiert. - In China freilich konnten sich die kulturellen Beziehungen zwischen dem Gastland und der Emigration auch aufgrund objektiver Hemmnisse nur schwer entwickeln. Und die Neubestimmung des Patriotismus durch das antifaschistische Exil erweist sich, neben dem Zivilisationsstolz, einer Kulturnation anzugehören und nicht irgendeiner jener barbarischen, fremden, halbverwilderten Nationen wie der chinesischen, noch in einem anderen wichtigen Aspekt als defizient: Wenngleich der Patriotismus des Exils eine Gleichberechtigung der nebeneinander und miteinander strebenden Völker konzipiert, so spricht er doch immerzu von einem deutschen oder einem österreichischen Volke, als hätten diese gegenüber anderen Völkern als ethnisch, sprachlich, national homogene Gebilde aufzutreten. Kaum ein Gedanke wird auf die Zukunft der sorbischen, polnischen, dänischen Minderheiten in Deutschland, der slowenischen, tschechischen, kroatischen, ungarischen Minderheiten, der Sinti und Roma in Österreich verschwendet. Die Exilforschung hat der Diskussion um nationale Fragen und um eine Neubestimmung des Patriotismus im Exil direkt und indirekt - z. B. im Zusammenhang der Aufarbeitung der „Volksfrontpolitik“ — bedeutende und umfangreiche Studien gewidmet, sie ist auch, wie es vor mir heute Wolfgang Neugebauer tat, der Frage nachgegangen, welchen Einfluß politische und weltanschauliche Konzepte des Exils auf die Nachkriegsentwicklung hatten - der Befund mußte in dieser Hinsicht niederschmetternd sein: Kaum etwas von dem, was das Exil erdacht und erträumt, geplant und gehofft hat, wurde realisiert, und wenn es realisiert wurde, fand es sich, wie schon in anderem Zusammenhang gesagt, „zur Unkenntlichkeit pervertiert“. Die Exilforschung ihrerseits, von einigen frühen Ansätzen, die noch von der Emigration selbst ausgingen (wie F. C. Weiskopfs Sammelband „Unter fremden Himmeln“, 1948), abgesehen, setzte zu einem Zeitpunkt ein, als dieser Prozeß der Nicht-Rezeption der politischen Konzeptionen des Exils eigentlich abgeschlossen, fait accompli war. Die Nachkriegsgeschichte war andere Wege gegangen, die Nachfolgestaaten Hitlerdeutschlands, die BRD, die DDR und Österreich, hatten es über weite Strecken sogar verstanden, den Emigranten nicht nur geistig keine Heimstatt zu bieten, sondern ihnen auch materiell und institutionell keine Chance zu einer erfolgreichen Rückkehr zu bieten. Gerade in ihren Anfängen bezog sich die Exilforschung sehr stark auf die politischen Konzeptionen des Exils; zum einen Teil wurde dieses Interesse hervorgetrieben durch die Konkurrenz und den Streit zwischen Exilforscherinnen und -forschern in West- und Ostdeutschland, um es unkorrekt, aber die Emotion eher treffend zu benennen, zum anderen Teil durch das politische Engagement der ExilforscherInnen selbst, die als nicht mehr naive, heimatliebende, sondern kritische Patrioten von tiefem Mißtrauen gegen die Nachkriegsnormalität der Periode 1950 bis etwa 1965 erfüllt waren, das Ausmaß der Beteiligung ihrer eigenen Väter wie überhaupt eines großen Teils der Bevölkerung an den nationalsozialistischen Verbrechen zu erahnen begannen, das nationale kulturelle Gedächtnis mit seinen literarischen Kanonbildungen als eine Form des institutionalisierten Vergessens und der Verdrängung des Geschehenen begriffen. Die Perspektive dieses kritischen Patriotismus war, namentlich in Österreich durch einen Ankampf gegen das trübe Ragout aus antisemitischem Vorurteil, katholischer Frömmelei und heimtückischem Biedersinn, der überall aus den Winkeln der Provinz zu dringen schien, geprägt und beschränkt. Das offizielle Österreich, der Staat und seine Einrichtungen, wurden in viel geringerem Maße Gegenstand des kritischen Elements in jenem Patriotismus. Vielmehr stellte sich der Zentralstaat mit seiner zumindest bürokratischen Rationalität, seinem legalistischen Prinzip als Bündnispartner eines Moderni11