OCR
Meine Kindheit besteht aus Fotografien der Momente dieser Kindheit. Ereignisse, die sich durch ihre Wucht einprägten. Eine bescheidene Geschichte. Ein Junge, der in einem walachischen Dorf geboren wird, dessen Erzählung sich mit den Erzählungen seiner Großeltern und Eltern vermischt, und der seit damals läuft und läuft und sich sehr nach einer Pause sehnt, um Atem zu schöpfen. Das alles ist vor dreißig und mehr Jahren passiert. Die Ereignisse, an die ich mich erinnere, steigen plötzlich aus dem Gedächtnis hoch, und wenn man sie nicht rechtzeitig mit einem Erinnerungspunkt markiert, dann verschwinden sie wieder in Unauffindbarkeit. Die Zeiten, von denen ich hier schreibe sind — genauso wie die mir verbliebenen Fotografien — schwarzweiß, zum Teil auch verblaßt. Nie und niemals sind sie coloriert. Meine Erinnerung ist schwach und die Fotos, die darin gespeichert sind, sind schlecht belichtet und voller Schatten. Sogar die ewig leuchtenden Sommer kommen mir wie ein Auschnitt aus Dr. Caligari vor. Verzerrte Perspektiven, skelettierte Wirklichkeiten, die sich nur noch für ein Erzählwerk eignen. Die Tage und Nächte erscheinen, aus dem jetzigen Lebensalter zurückblickend, wie morgentliche Halbträume, an die man sich später, während des Tages, so gern erinnern würde. Aber trotz dem hinterherlaufenden, sich abmühenden Bewußtsein verschwindet jede Spur von dieser erreignisvollen Welt beim Aufwachen. Außer vielleicht die Vermutungen, die — durch die Flut des Schlafens doch nicht weggefegten — Halberinnerungen an die Atmosphäre, an Gerüche, an Licht und Freude... Aus solchen Fetzen versuchen wir unsere Geschichte aufzubauen, und es macht keinen Unterschied, ob es sich hier um Halbträume oder um unsere wahren Erinnerungen handelt. Erkennen werden wir sowieso nie. Ein Hund In einem solchen Zwischenraum hatte ich einen Hund auf meinem Hof in Velika Kamenica. Ein großer Hund — um einiges größer als ich. Ich kam von der Straße in den Hof, und er sprang an mir hoch und begrüßte mich euphorisch. Am Abend, wenn ich schon im Bett war, blieb er draußen im Hof und paßte auf mich auf. Bis ich eines Tages nach Hause kam und es hieß, der Hund sei weggelaufen. Er war alt und schon blind, „er wird sicher nicht mehr nach Hause finden“. Damals hatte ich ihnen das geglaubt. Jetzt kommt zu dem Bild von dem Hund noch das Bild von dem Großvater mit seinem Jagdgewehr dazu. Ich wußte damals nicht, was das heißt. Jetzt weiß ich es. Manchmal, bevor das Hund von uns ging, saßen wir gemeinsam im Garten. Untätig vor uns hinblickend genossen wir die Sonne. Diese Sonne ist, trotz der Dunkelheit meiner Erinnerungen, immer dagewesen. Als einmal meine Großmutter vorbeikam, um Pflaumen zu sammeln, konnte sie uns hören, wie wir miteinander redeten. Ich sagte „Siehst du?“ und der Hund antwortete „Ja ich sehe.“ Und wir lagen zufrieden im Gras. In den Himmel schauend und ein Teil des Himmels geworden. Als ich die Schritte von meiner Großmutter hörte und mich in ihre Richtung drehte und hinaufschaute, verschwanden der Hund und die Sonne... es wurde dunkel. Meine einzige Möglichkeit ist, den Film zurückzudrehen und zum Anfang zurückzukehren, wo ich von der Straße in den Hof hineingehe und der Hund auf mich wartend mit dem Schwanz wendelt. Der Fotograf Manchmal denke ich an den Blick meines Vaters, wie er noch ganz jung, als Fünfjähriger, zusammen mit meiner Tante in die Kamera schaut. Sie stehen in einer Landschaft, von der man nur sehr wenig sehen kann. Die Tante hat aufgehört zu weinen und mein Vater zweifelt an dem, was der Fotograf gerade tut. Diesen Blick bemerke ich auch heute noch manchmal bei ihm. Es war damals offenbar schon nach dem großen Krieg. Mein Vater und meine Tante waren die Zukunft des Landes Jugoslawien und noch nicht befangen von dem ausweglosen Gefühl, etwas anderes werden zu müssen. Sie waren noch Bauern und hatten sich darauf vorbereitet, es auch ewig zu bleiben. Die dreijährige Tante durfte sich dem Fotografen weinend hingeben. Sie ahnte noch nicht, was auf sie zukommen würde, und konnte nichts mit dem anfangen, was die anderen das Leben nannten. Auf dem Foto hat sie Angst vor etwas. Vor etwas, worauf der einzelne keinen Einfluß hat und vielleicht aus Furcht auch keinen haben will. Außer diesem Foto habe ich nur Bruchstücke ihrer Erinnerungen zur Verfügung: Mein Vater sagt, daß er arbeiten gehen mußte, und die Tante erinnert sich nicht mehr, aber „wahrscheinlich bin ich von jemandem zum Spielen aufgefordert worden“. Sie lebten noch in einer Welt, in der das Elementarste geregelt war. Es schien nie unklar, wer mit wem und wie sich alles ereignen sollte. Es kam anders kam, als sie es sich damals vorstellen konnten. Diese ihre Welt gibt es nicht mehr. Es gibt nur die eine oder andere Vermutung darüber, wie es hätte sein können. Meine Tante und mein Vater und auch die Nachbarn und ihre Verwandten befinden sich jetzt in Europa und leben dort ein Leben als „Gastarbeiter“. Nicht so unglücklich, wie die meisten Einheimischen denken. Nein, es paßt ihnen, obwohl sie vorher nie vermutet hätten, daß sie hier landen würden. Die beiden Kinder besuchten an jenem Tag noch einige ihrer geheimen Spielplätze und fielen am Abend todmüde ins Bett. Das Bild ist vorbei. Damit ist die Geschichte aber nicht zu Ende. Im Herbst 1970, als meine Eltern in Österreich waren und meine Großeltern und ich in Velika Kamenica weiterhin Bauern spielten, kam abermals ein Fotograf zu unserer Familie. Dieses Mal war ich derjenige, der sich mit dem Gerät und dem dahinter stehenden Mann auseinanderzusetzen hatte. Ich 13