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wurde für diese Gelegenheit in ein weißes Hemd und in Hosen, die ich nur selten tragen mußte, eingehüllt. Die Tracht habe ich nie gemocht, es war aber, wie mein Großvater und meine Großmutter sagten, notwendig. Das Bild würden sie meinen Eltern in „Austrija“ schicken und diese würden darüber große Freude haben. Tatsächlich ist es aber eines der seltenen gemeinsamen Bilder von mir und meinen Großeltern geworden. Sie selbst haben sich auch nicht gern fotografieren lassen. Bei Susan Sontag habe ich später gelesen, daß das etwas mit der Angst vor dem Verlust der Seele zu tun hat. Ich kann mich nicht daran erinnern, so empfunden zu haben. Es war eher die Angst vor dem unbekannten Mann, dem Fotografen, der so mächtig hinter seinem Apparat stand und dem wir uns alle so ausgeliefert fühlten. Aber alle im Dorf haben es gemacht und es war klar, daß auch wir uns fotografieren lassen mußten. Es war aber ebenso klar, daß es nicht sehr oft passieren sollte. Meine Großeltern waren zu verschieden, als daß man sie öfter dazu zwingen konnte, ein glückliches Ehepaar zu spielen. Sie lebten in einem System, das sie dazu zwang. Aber sie waren sich schon sehr früh darüber im klaren, daß sie nur deswegen zusammen waren, weil sie mit anderen noch weniger hätten anfangen können. Schicksal oder wie man das sonst noch nennen mag. Bei ihnen war ich mir selbst nie so sicher. Sie erinnerten mich später an den Totentanz von Strindberg. Für immer in einem eigenen süßen Unglück vereint. Mich wollten sie nicht in ihrem Netz und dafür bin ich ihnen dankbar. Ich war ein Teil der Außenwelt und ihre Probleme hatten ihrer Meinung nach mit mir nicht viel zu tun. Ich strengte mich allerdings auch nicht an, herauszufinden, was sie quälte. In der Zeit, in der ich bei ihnen lebte, war ich zufrieden, wenn sie mich in Ruhe ließen und sich gegenseitig mit Worten an die Gurgeln fuhren. Doch der Fotograf war da, und was er auf seine Platte festhielt, blieb. Ich kann jetzt nur feststellen, daß es damit, was mein Vater, meine Tante, meine Großeltern und ich waren, nichts zu tun hatte. Wir waren ein Teil in einem Prozeß, den andere irgendwo diktiert haben, ohne daß wir dazu eine Meinung haben konnten. Aber wir waren nicht unglücklich mit dem, was wir hatten. Es war halt so und die ganze weite Welt war eine Insel draußen, außerhalb, auf der wir uns, wie wir damals glaubten, niemals befinden würden. Es kam anders. Wir wurden ein Teil dieser Insel. Sitzen jetzt mitten drin und glauben, daß es nicht anders hatte kommen können. Die Eltern Meine Eltern waren beide weg, als ich sechs Jahre alt war. Als erster ging mein Vater. Er kam nach seinem Armeedienst für einen einmonatigen Urlaub ins Dorf, um mich als Neugeborenen zu sehen und ging dann nach Slowenien. Dort bekam er Arbeit in einer Stahlfabrik. Dann vertrug er sich mit dem Schwager meiner Mutter nicht mehr und beschloß weiterzuwandern. Es bot sich gerade Österreich an. 1964 haben die zwei Staaten einen Vertrag unterschrieben, in dem stand, daß das kapitalistische Austrija Arbeitskräfte aus dem sozialistischen Jugoslawien anwerben durfte. Mein Vater war einer von denen, die diesem Ruf sofort folgten. 14 Er war mit diesem Entschluß nie unzufrieden. Vor allem weil die Trennung von meiner Mutter ihm auch die Möglichkeit bot, sich ein wenig mit anderen Frauen zu beschäftigen. Er fand eine Liebhaberin, Frau Grete. Sie wurde zum unmittelbaren Anlaß für meine Mutter, ihm nachzufolgen. Das ereignete sich so: mein Vater kam einmal nach Hause und blieb zwei Wochen. Während dieser Zeit arbeitete er am Hof, weil er seiner Mutter helfen wollte und beschäftigte sich auch mit mir. Ich kann mich wenig daran erinnern, aber er behauptet es. Ich weiß nicht, ob ich ihm glauben soll. Jedenfalls kam er bei diesem Besuch nicht allein. Er flüchtete vor Frau Grete, mit der er gerade Schluß gemacht hatte, trug aber noch immer ein Foto von ihr mit sich. Diese Fotografie wird damit wieder zu einem entscheidenden Moment, mit der ein Lebensabschnitt anfin g und ein anderer Zu Ende ging. Er versteckte das Foto seiner Liebhaberin bei seinen Dokumenten. Den Teil, wo das Foto sich befand, versteckte er besonders gut. Das war der Fehler. Als er zurückkehren sollte, stellte sich heraus, daß er nicht mehr wußte, wo das Versteck war. Er fragte meine Mutter, ob sie etwas gesehen habe. So gab er ihr den Hinweis, daß sie unbedingt danach suchen sollte. Was auch geschah und zwar sofort, nachdem er gefahren war. Meine Mutter fand das Foto und zeigte es meinen Großeltern mit den Worten: „Seht ihr, was euer Sohn dort macht!“ Sie versuchten sie zu beruhigen, indem sie sagten, daß es sich da um eine häßliche Frau handle. Das beruhigte meine Mutter aber nicht, denn sie hatte die Möglichkeit, sich mit der anderen im Spiegel zu vergleichen. Ihrer Meinung nach war die andere schöner als sie. So beschloß sie den Kampf aufzunehmen und meinen Vater aufzusuchen. Sie ging im Frühling 1970. Mir haben sie nichts davon gesagt, und ich erinnere mich auch nicht mehr daran, wie ich darauf reagiert habe. Möglicherweise habe ich damals beschlossen, sie aus der Erinnerung auszulöschen, da sie mich betrogen haben. Ein Radio, die Lehrer und die Großeltern Am Anfang war ein Bild. Ich wünschte mir etwas zu sein. Jemand, dem man nicht mehr sagen würde, was er zu tun habe. Ich wünschte mir, ein Teil der Welt zu sein und ich beging einen Verrat. Ich verriet mein bisheriges Leben. Nicht, daß ich damit nicht einverstanden war. Aber ich verknüpfte in meiner Existenz einfach eine damalige und eine zukünftige Art zu denken. Ich stand vor dem Gerät und lauschte hinein. Es war ein Radio und ich war von dem, was es zu sagen hatte, begeistert. Was andere davon hielten, kümmerte mich wenig. Das Gerät stand auf einem Regal und versetzte mich regelmäßig in eine Welt, die mit unserem Alltag nichts zu tun hatte. Ich war ein Teil davon. Ich bewegte mich mit und befand mich mitten drin. Die fremdartige Musik und die tiefe Stimme des Sprechers. Die Sprache, die aus einem Jenseits kam. Da war ein großer Suchknopf, aber ich traute mich anfangs nicht, ihn zu bedienen. Er war in eine Holzkiste eingebaut. Ich stand davor, die Namen verschiedener Städte vor Augen. Die Städte wurden beim Einschalten des Gerätes auf einer von innen beleuchteten Skala sichtbar. Ich drehte an dem Gerät und es kamen Geräusche und Stim