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men. Diese überzeugten mich nach und nach davon, daß wir nicht die einzigen auf der Welt waren. Von da an wußte ich, daß es auch andere Sprachen und andere Musik, andere Welten gab. Ich mußte an das glauben, was der Kommunist, der als Lehrer in unser Dorf gekommen war, zu erklären versuchte. Die ganze Welt ist ein Reichtum und ich bin lebendig mitten drinnen. Der Lehrer, der es als seine kommunistische Aufgabe sah, das Dorf zu bekehren, ist auch im Dorf geblieben. Er hat eines der ärmsten Mädchen geheiratet und war sein Leben lang ein Teil dessen, zu dem er nicht gehörte. Er starb und wurde irgendwohin weggeführt. Niemanden im Dorf interessierte, wohin, und mich auch nicht. Ich weiß nicht warum. Er ist ein Teil gewesen, aber nicht als Teil gekommen. Er wollte nicht Ruhe geben, wollte bekehren, und das haben ihm die Bauern, die gegenüber Bekehrern nie freundlich waren, übel genommen. Altgeworden, war er im Dorf eine Ausnahme geblieben; sogar wir, die Kinder, durften ihn jetzt verspotten. Später — von unserem zweiten Lehrer — wurden wir immer gezwungen, Ausflüge zu machen: rund um das Dorf und Schildkröten sammeln. Er versprach uns Geld, weil er die Kröten nach Italien verkaufe. Dort esse man sie. Deswegen nenne man die Italiener „Zabari“, die Fröscher. Wir bekamen nie etwas, außer der Gewißheit, daß es sich hier nicht um eine ehrliche Sache handelte. Die Schildkröten wurden nämlich mit der Axt zerhackt und an seine Hühner verfüttert. Die Hühnchen freuten sich und wir verloren den Glauben an die Bildung, an den Staat und an die dazugehörigen Beamten. Besonders daran, was der Lehrer uns erzählte. Die Schule wurde so zu einer Ausbildungsstätte für Jung-Skeptiker. Natürlich haben wir damals davon nichts gewußt. Die Lehrer waren da. Wir fanden sie vor und sie blieben, bis der erste starb und das Dorf den zweiten wegjagte. Einige seiner früheren Schüler taten sich zusammen und zerschlugen den Stolz: das Auto des ehemaligen Schildkrötenvernichters. Es half keine Polizei. Gegen das ganze Dorf half nichts. Er übersiedelte in das nahegelegene Städtchen und wurde Polizeispitzel — was er vermutlich immer gewesen ist. Nun, der zweite Lehrer hatte mit dem ersten nichts zu tun. Der erste lebte viel früher und sein Stern erlosch, ehe der neue Lehrer ins Dorf kam. Zusammen waren sie nur das Team, das uns zu dem machte, was wir jetzt sind. Ich verbrachte die Nächte meiner Kindheit in der Gesellschaft des Radios, mit seinen nie verstandenen Sprachen, und der Märchenbücher, die mir der erste Lehrer schenkte. Er war ein gescheiter Mensch, aber irgendwie verlor er. Keiner wußte genau, warum er gerade bei uns gelandet ist. Er war da und hatte ein Zimmer voll mit Zeitungen, der „Politika“. Ich durfte ihn besuchen. Er wohnte in einem Zimmer bei unserem Nachbarn. Auch das war für das Dorf etwas Neues. Bis dahin hatte jeder, gleich wie arm er war, ein Haus. Dieser fremde Lehrer, der die Sprache des Dorfes nicht verstand, der die Kinder in der fremden Sprache unterrichtete, führte also einen neuen Lebensstil ein. Er hauste inmitten seiner Zeitungen und, ich bilde mir ein, Bücher. Vielleicht war es auch nicht ganz so, ich glaube aber, daß es irgendwie so hat sein müssen. Ich scheute mich davor, den Suchknopf des Radios zu drehen, und doch gewann ich mit der Zeit die Sicherheit, meine eigenen bevorzugten Sender zu finden. Bei uns hatte jeder seinen. Mein Großvater, der gern unter Leute ging, wollte manchmal die Nachrichten hören. Das aber eher selten. Er war es nicht gewohnt, nach einer Uhr zu funktionieren. Meine Großmutter dagegen, an der Politik ziemlich uninteressiert, hatte das Haus und alles Rundherum am Leben zu erhalten. Sie hörte jeden Tag um 17.30 Uhr abends die rumänische Volksmusik, die von Radio Bukarest gesendet wurde. Mein Großvater war ein Mann der Unzufriedenheit und Oma ein Mensch, die mit der Unzufriedenheit des Großvaters schwer etwas anzufangen wußte. In der Nacht hörte ich Radio. Später gab es auch einen Fernseher im Haus, der mich aber nie so an sich gefesselt hat wie das Radio. Zum Boxkampf zwischen Muhamed Ali und Joe Frazer um vier Uhr früh hat mich mein Großvater geweckt. Ich erinnere mich noch genau, wie Frazer k.o. geschlagen wurde. Es war der erste frühe Morgen, an den ich mich erinnere. Clay und Frazer verschmelzen mit ihm. Und wenn ich jetzt höre, daß über Muhamed Ali ein Dokumentarfilm gedreht wird, stimmt mich das morgendlich nachdenklich. Ansonsten war es eher verboten, in der Nacht Radio zu hören. Ein Bursche wurde erzogen, um zu arbeiten und nicht um sich mit etwas, das auf einer fernen Insel lag, zu beschäftigen. Damit war ich einverstanden und doch konnte ich nicht anders. Ich folgte meinem Weg und die Großeltern hatten ihre Probleme damit. Bis sie nicht mehr mit dabei waren. Sie starben in der Zeit, in der ich von Jugoslawien nach Österreich ging. Beide an Magenkrebs. Zuerst starb mein Großvater. Worauf meine Großmutter mit der Aussage reagierte: „Endlich kann ich so leben, wie ich es mir immer gewünscht habe.“ Und sie starb eineinhalb Jahre später an der gleichen Krankheit. Warum, konnte ich nicht verstehen. Ich hatte sie und das Leben im Dorf hinter mich gelassen und all das war zweitrangig. Auch ihr Tod. Es gab sie nicht mehr und ich war ihr Nachfolger. Ich litt eigentlich nicht. Ich war nur traurig gestimmt. Die Zeit begann mit ihrem Tod für mich eine Rolle zu spielen. Der Tod meiner Großeltern bestimmte mich ab diesem Moment. In diesem Augenblick begriff ich, daß ich in Zukunft allein durch den Alltag gehen mußte. Die vorliegenden Texte stammen aus einem größeren, noch nicht abgeschlossenen Zyklus. — Ljubomir Bratic, geboren 1964 in Velika Kamenica (Jugoslawien), kam 20jährig nach Österreich und studierte Philosophie in Innsbruck; Diplomarbeit über Probleme der Identität der Zweiten Generation von Zuwanderern. Bratié ist als Betreuer im Integrationshaus Wien tätig und ist Mitredakteur der „Migrantinnen-Akademie Schriften“ und des Nachrichtendienstes Widerst@nd.at. Er veröffentlichte Studien zu Fragen von Antirassismus und Multikulturalismus und der muttersprachlichen Sozialarbeit. 15