OCR
Am 24. Februar 2000 hatten der Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur, die Theodor Kramer Gesellschaft und der Republikanische Club zu diesem Kolloquium in die Räume des Republikanischen Clubs in Wien eingeladen. Erna Wipplinger moderierte, Evelyn Adunka, Konstantin Kaiser, Doron Rabinovici, Gerhard Scheit und Vladimir Vertlib eröffneten mit ihren Statements eine ziemlich lebhafte Diskussion. Der folgende Text ist eine nur leicht redigierte Abschrift dieser Statements von einem Tonband-Mitschnitt, den uns in dankenswerter Weise der freie Radiosender Agora (Klagenfurt/Celovec) zur Verfügung gestellt hat. In der Einladung zu dem Kolloquium waren die Fragen, die an diesem Abend gestellt werden sollten, skizziert: „Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut ... Sie können den Juden nicht leiden und imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blut läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt.” Adornos und Horkheimers Einsicht ins Wesen antisemitischer Projektion trifft im besonderen Maße die literarischen und dramatischen Darstellungsweisen. Gerhard Scheit hat sie zum Ausgangspunkt einer umfangreichen Studie gemacht: Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus (ga ira-Verlag Freiburg). Anläßlich des Erscheinens dieses Buchs werden die Fragen diskutiert: Wie antisemitisch ist die österreichische Literatur nach 1945? In welcher Weise findet eine Auseinandersetzung mit der Shoah und mit antisemitischen Tendenzen in der Nachkriegsgesellschaft statt? Inwieweit wird solcher Auseinandersetzung ausgewichen? Bedeutete die Waldheim-Affäre hier einen Paradigmen-Wechsel? Erna Wipplinger: Ich möchte anfangs die Teilnehmer am Podium vorstellen. Vladimir Vertlib, aus Leningrad, lebt heute in Salzburg und Wien, er emigrierte 1971 mit seinen Eltern nach Israel. Nach mehreren Zwischenstation - Italien, Niederlande, USA - kam er wieder nach Wien. Er ist seit 1993 freischaffender Schriftsteller und erhielt heute den Österreichischen Förderungspreis für Literatur 1999, wozu ich ihm sehr herzlich gratuliere. Publiziert wurden bisher von ihm eine Erzählung Abschiebung und der Roman Zwischenstationen. Doron Rabinovici, Historiker und Autor, in letzter Zeit allen wieder bekannt von den sogenannten Wandertagen gegen die Regierung, ist führender Mitarbeiter und Mitbegründer der Demokratischen Offensive. Konstantin Kaiser, Mitherausgeber der Buchreihe Antifaschistische Literatur und Exilliteratur — Studien und Texte und der Zeitschrift Mit der Ziehharmonika, der Zeitschrift der Theodor Kramer Gesellschaft. Man kann ihn als den Experten fiir antifaschistische Literatur und Exilliteratur bezeichnen. Gerhart Scheit, Kulturwissenschafter und Autor, hat diverse Publikationen herausgebracht, so Theater und revolutionärer Humanismus. Eine Studie zu Jura Soyfer, Am Beispiel von Brecht und Bronnen. Krise und Kritik des Modernen Dramas, Hanswurst und der Staat oder Dramaturgie der Geschlechter. Der Anlaß, aus dem wir heute zusammensitzen, ist sein neues Buch mit dem Titel Verborgener Staat, lebendiges Geld. Zur Dramaturgie des Antisemitismus. Evelyn Adunka, Journalistin und Autorin - sie schrieb ein 18 Buch über Friedrich Heer, ein Buch über die Nachkriegsgeschichte der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde erscheint dieser Tage; als Generalsekretärin der Liga gegen den Antisemitismus hat sie sich mit dem Antisemitismus in Österreich auch schon viele Jahre beschäftigt. Ich selbst bin Theaterwissenschafterin und habe mit Konstantin Kaiser und Gerhard Scheit die Ausstellung Kabarett und Satire im Widerstand 1933 — 1945 gemacht und komme deshalb zu der Ehre, diese Diskussion zu leiten. Ich werde nicht das Wort erteilen, sondern wünsche mir, daß es eine lebendige Diskussion wird. Sehen Sie mich quasi nur als Schlichtungsstelle. Wenn ein zu großes Durcheinander entsteht, werde ich eingreifen. Gerhard Scheit: Es ist nahezu unmöglich, das Buch nachzuerzählen. Ich möchte versuchen einen Bogen zu spannen von der Fragestellung dieses Buchs zur Fragestellung dieser Diskussion, da das Buch nicht unmittelbar mit Antisemitismus und österreichische Literatur zu tun hat, sondern einen weitergefaßten Gegenstand. In meinem Buch wird Antisemitismus nicht als irgendein Vorurteil betrachtet, der Begriff des Vorurteils wird sogar kritisiert. Sondern Antisemitismus wird als ein wahnhaftes Bewußtsein begriffen. Ein wahnhaftes Bewußtsein, weil unheimliche, weil real abstrakte Verhältnisse personifiziert werden. Was ist gemeint mit diesen unheimlich real abstrakten Verhältnissen? Das sind die Tauschwertverhältnisse, Geld- und Kapitalverhältnis. Das sind eben Verhältnisse, die nun einmal, wie Karl Marx sehr schön gezeigt hat, alles andere als einfach durchschaubare real-konkrete Verhältnisse sind. Antisemitismus offeriert nun das Angebot eines Feindbilds, wodurch speziell in Krisensituationen der Konfrontation mit diesen Verhältnissen ausgewichen werden kann. Und der Antisemitismus vermittelt zugleich das Gefühl von radikalem Protest, von Widerstand und ist in Wahrheit doch nur das tiefste Einverständnis mit diesen Verhältnissen. Der Antisemitismus, wie er hier begriffen wird, ist zwar rassistisch, geht aber im Rassismusbegriff nicht auf. Beim rassistischen Ressentiment gegenüber Schwarzen z. B. handelt es sich natürlich ebenfalls um eine Form der Projektion, aber proJiziert wird hier jedenfalls etwas anderes. Jedenfalls nicht das, was im Falle des Antisemitismus projiziert wird, wenn die Juden als Personifizierung der abstrakten Seite der Warenproduktion, des zinstragenden Kapitals, des Geldes, der Finanzmärkte usw. phantasiert werden. Mit dieser Personifizierung hängt nun auch ein bestimmter Imitationswahn der Antisemiten zusammen, ein bestimmtes obsessives Bedürfnis, die Juden nachzuahmen. Und Adorno und Horkheimer schreiben in der Dialektik der Aufklärung, in der sie auch zum ersten Mal im genauen Sinn diesen Begriff der Projektion für den Antisemitismus entwickeln, über die Antisemiten: „Sie können den Juden nicht leiden und imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt.“ Daraus folgt, für die Darstellung in diesem Buch, daß die Jüdinnen und Juden einerseits immer wieder als Verkörperung des Kapitals verfolgt, vertrieben und ermordet wurden, andererseits aber zugleich geradezu zwanghaft imitiert, nachgemacht und dargestellt wurden. So hat man es hier mit einem kontinuierlichen Element der sogenannten abendländischen,