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speziell der deutschen und deutsch-österreichischen Kultur zu tun. Diese Tradition reicht tatsächlich vom spätmittelalterlichen Passionsspiel bis zum nationalsozialistischen Film. Daraus ergibt sich eine Kulturgeschichte der Barbarei, wie ich das bezeichne. Und in diesem Buch, das heute den Anlaß der Diskussion bildet, in diesem Buch werden einzelne Exponate dieser Kulturgeschichte der Barbarei herausgegriffen und analysiert. Und zwar, wie man in Hinblick auf Freud sagen könnte, als anspruchsvolle Fehlleistungen, d. h., in der Hoffnung, daß in diesen Werken, in diesen Darstellungsformen, in diesen literarischen Formen das antisemitische Ressentiment mehr über sich selbst ausplaudert, als ihm eigentlich recht ist und recht sein kann. Es geht nicht darum, sozusagen eine Sozialgeschichte des Antisemitismus mit Darstellungen aus der Kunst, aus der Literatur, aus der Geschichte des Theaters und des Films zu illustrieren, sondern die ästhetische Form wird durchaus als eine Reflexionsmöglichkeit ernst genommen, als paradigmatischen Fall, könnte man hier die Figur des Shylock aus Shakespears Kaufmann in Venedig heranziehen. Etwa wenn Shylock im Dialog mit den Christen die Gründe offenlegt, warum diese Christen das antisemitische Feindbild benötigen. Das wären so charakteristische Dialogsequenzen in diesem Stück, die diese Reflexionsmöglichkeit etwa im Dramatischen sichtbar machen können. Ähnliche Dinge spielen sich dann auch in der Musik von Richard Wagner ab. Hier versuche ich mit musikalischen Analysen solche Reflexionsmöglichkeiten, Widersprüche, zutage zu fördern. Und hier liegt auch der Unterschied zur „nationalsozialistischen Kunst‘, zur „nationalsozialistischen Propaganda“, die nur noch als eine Funktion der Vernichtung betrachtet werden kann. Soweit also völlig verkürzt und thesenhaft der Inhalt des Buchs. Wer es genau wissen will, muß sich der Mühe der Lektüre unterziehen. Es ist tatsächlich eine Mühe, was mit dem Gegenstand natürlich zu tun hat. Es gibt in dem Buch eine Art Nachwort zur Literatur und Kunst nach 1945, worin ich mich vor allem auf die deutsche Entwicklung konzentriere. Es geht hier um die Frage, wie wird nun nach der nationalsozialistischen Massenvernichtung der Juden mit dem antisemitischen Feindbild umgegangen, mit dem Antisemitismus überhaupt? Auf der Seite der politisch engagierten linken Literatur lassen sich durchaus merkwürdige Vorgänge erkennen. Peter Weiss schreibt eine Art Dokumentarstück über den Auschwitz-Prozeß, das sehr bekannte Stück Die Ermittlung. In diesem Stück wird das Judentum, die jüdische Herkunft der Opfer nicht beim Namen genannt. Es gibt nur eine einzige Stelle, wo mit dem Namen eines Opfers auf diese Herkunft hingewiesen wird — eine Frau wird als Sarah angesprochen. Heinar Kipphardt — ich möchte hier nur einige Schlaglichter, auch für die Diskussion versuchen — schreibt ein Stück über Eichmann, Bruder Eichmann, in dem die Lage der Juden im Nationalsozialismus mit der Lage der Palästinenser in der Gegenwart parallelisiert, wenn nicht gleichgesetzt wird. Und Gerhard Zwerenz und Rainer Werner Fassbinder reaktivieren ganz offen im Roman, im Film und im Theater das Feindbild des reichen Juden und gerieren sich damit als Antikapitalisten und Neue Linke und Antiautoritäre, weil sie mit dem Tabu der Nachkriegsära brechen, mit dem philosemitischen Tabu. In der österreichischen Literatur nach 1945 verläuft alles etwas anders, wie wir wissen. Damit kommen wir auch zum Thema dieses Abends. Hier gibt es aber auch sehr seltsame Gerhard Scheit. Foto: Nina Jakl Vorgänge, Phänomene wie den Roman Moos auf den Steinen von Gerhard Fritsch, worin eine merkwürdig verschlüsselte, von Todessehnsucht geprägte Form der Schuldabwehr und Schuldumkehr stattfindet. Ein Überlebender der Shoah wird durch ein Fehlverhalten im Straßenverkehr schuldig am Tod eines ehemaligen Wehrmachtssoldaten. Wobei die Figur des Juden durchaus ganz mit Sympathie und Einfühlung dargestellt wird. Es ist also nicht so einfach, wie das Robert Menasse in der sozialpartnerschaftlichen Ästhetik darstellt, daß Gerhard Fritsch in Moos auf den Steinen einfach den Nationalsozialismus oder diese Kontinuität ausblendet. In Wirklichkeit taucht sie in solchen merkwürdigen symbolischen Handlungszügen auf. Aber nicht nur symbolisch, sondern auch direkt wird diese Figur des Überlebenden namens Lichtblau sehr konkret dargestellt, als Überlebender nämlich, als Überlebender der Shoah. Oder es gibt eine Erzählung wie Ingeborg Bachmanns Drei Wege zum See, wo die Autorin auf den Text von Jean Amery zurückgreift - jenen Jean Amery, der sich ganz explizit als jüdisches Opfer des Nationalsozialismus begriff. Und Bachmann verwendet ihn dazu, um das Schicksal eines nichtjüdischen Emigranten zu charakterisieren. Irene Heidelberger-Leonhard hat darüber einen sehr instruktiven Essay geschrieben, worin sie auf die Implikationen dieser Übertragung, dieser Verschiebung und dieses Mißverständnisses eingeht. Oder es gibt das Wunschlose Unglück von Peter Handke, in dem das epische Subjekt, das die Integration der Mutter in den Nationalsozialismus beschreibt, über die Vernichtung der Juden schweigt. Nur in einem Nebensatz wird überhaupt die Lage der Juden angedeutet, wobei sie allerdings mit Kaufhäusern identifiziert werden. Schließlich möchte ich noch auf den Essayroman Die Lehre der Sainte-Victoire von Peter Handke hinweisen, von 1980, in dem Marcel Reich-Ranicki als bellender und geifernder Leithund bezeichnet wird, in dem sich - ich zitiere „in dem sich gleichsam etwas Verdammtes rumtrieb und dessen Mordlust vom Ghetto noch verstärkt worden war“. Abgesehen davon wird Marcel Reich-Ranicki der Tod gewünscht. Das alles hat sich in den 1980er Jahren geändert und hier würde ich dem durchaus zustimmen, was im Einladungstext festgestellt wurde. Die Waldheim-Affäre war in der Literatur wirklich das, was man heute als Paradigmenwechsel bezeich19