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Propaganda auf Verteidigung des Abendlandes. Damit einher ging die Publikation von Trakl-Gedichten in nationalistischen Propagandaschriften. Grodek wurde in der Endphase des Nationalsozialismus sehr wohl wieder zu einem Gedicht, an dem Orientierung und Trost gesucht wurden. Diese im Zeichen einer Trakl-Renaissance stehende pantragische Stimmung spiegelt noch einigermaßen das kurz Vorhergegangene, aber in einer völlig abstrakten und das ganze in allgemein-menschliche, überhistorische Tragik verwandelnden Weise. Auf dem Ort dieser pantragischen Stimmung ist auch die Tätigkeit des Präceptors der modernen Kunst in Österreich, des Monsignore Otto Mauer, zu sehen. Das unter der nationalsozialistischen Herrschaft Geschehene verwandelt sich theologisch in ein Geschehen von apokalyptischen Ausmaßen, in dem alle Unterschiede zwischen Opfern und Tätern, zwischen Juden und ihren Verfolgern, zwischen Nationalsozialisten und ihren Gegnern verwischt sind in einer allumfassenden Tragik der Hinfälligkeit des Diesseitigen, einer Tragik, die dann auch ihren konsequenten Ausdruck findet in bestimmten Formen der abstrakten Malerei, die in Österreich wirksam geworden sind. Es gibt natürlich in dieser ganzen Periode der neo-avantgardistischen Nichtauseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus verschiedene Anzeichen, daß die antisemitischen Ressentiments aufrecht geblieben sind. Es ist bekannt, auch wenn es in der österreichischen Literaturgeschichtsschreibung kein einziges Mal erwähnt wird, daß ja Konrad Baier seinen Selbstmord u.a. auch deshalb verübt hat, weil ihm bei der Tagung der Gruppe 47, an der er kurz vor seinem Tod teilgenommen hat, massiv Antisemitismus vorgeworfen worden ist. Also gibt es den ressentimentgeladenen ‚Schlenker‘, man wird sicher das eine oder andere finden, aber die Hauptsache ist die Affirmation dessen, daß man sich nun auf dem gereinigten Boden einer modernen Gesellschaft befindet, in der solche Anachronismen wie ein antikes Volk, wie es das jüdische ist, nicht mehr in einem sozialen Sinn relevant sind. Eine Änderung tritt ungefähr zeitgleich und zusammen mit der Waldheim-Geschichte ein, wo auf einmal der Besitzstand der strukturellen Antisemiten in Frage gestellt wird und ein Kampf um die Aufrechterhaltung des strukturellen Antisemitismus beginnt. Wo also das ‚wohlerworbene‘ Recht des Nachkriegsösterreichers, wenn man das jetzt so globalisierend sagen kann, in einer im wesentlichen judenfreien Gesellschaft zu leben, durch die Entwicklung und auch durch die Aktivitäten von selbstbewußter gewordenen, vorher ganz marginalen Gruppen in Frage gestellt wird, und diese ungeheure ‚gerechte Empörung‘, die sich gegen die Infragestellung des strukturellen Antisemitismus entwickelt hat, haben wir ja heute vor Augen. Doron Rabinovici: Und zwar so, daß seit 1986 klargeworden ist hier in Österreich, daß der Antisemitismus in unserer Gesellschaft noch Relevanz hat und nicht einfach auf die Zeit vor 1945 verlagert werden kann: Antisemitismus war nach 1945 zuerst einmal bloß das, was mehr oder weniger nur in der Gaskammer vor sich gegangen ist. Schluß, aus, fertig. Vor Gericht ist das übrigens noch immer so. Wenn ich heute jemandem vorwerfe, Antisemit zu sein, dann kann der mich klagen, weil ich ihm damit vorwürfe, nationalsozialistische Wiederbetätigung zu begehen. Auch wenn ich das überhaupt nicht so gemeint habe, da ich ja weiß, daß sich der Antisemitismus wie ein roter Faden durch die Geschichte auch dieses Landes zieht und lange, bevor es den Nationalsozialismus gab, bereits existent war und danach nicht tot war — trotzdem, die österreichischen Gerichte tun so, als bezöge sich der Vorwurf, jemand sei antisemitisch, immer darauf, daß er sich nationalsozialistisch wiederbetätigt habe. Natürlich: Wenn man sich heute in eine Talkshow setzen könnte und sagen dürfte: „Meine Damen und Herren, wer antisemitisch ist, der hebe hier die Hand!“ — niemand würde sich melden. Genauso könnte man fragen, wer betrügt seine Frau, wer schlägt seine Kinder — das sagt man nicht öffentlich, zumindest nicht, während die Kameras surren. Trotzdem tun alle möglichen Leute das alles, egal welcher Partei sie zugehören. Man kann in jeder österreichischen Partei genug Leute finden, die antisemitischen Ressentiments nachhängen. Und tatsächlich, wie wir schon gehört haben, ist dies nicht einfach ein Vorurteil oder eine Meinung, es ist eine Leidenschaft. Daß sich das in Österreich nach 1945 rekonstituieren konnte, liegt nicht allein daran, daß die Juden nicht mehr da waren und man sich häuslich gemacht hat in eben den Wohnungen, die man ihnen weggenommen hat, es liegt auch an folgendem: Wenn Österreich als das erste Opfer Hitlers gilt, dann muß man, um bei dieser These zu bleiben, die Juden aus dem Bild wegretuschieren. Die Rekonstituierung Österreichs, der Gedanke an sich, Österreich sei eine Nation, war ja antinazistisch, aber im Laufe der Zeit wurde er zu einer Staatslegitimation, die den Antisemitismus in sich trug und sich tatsächlich in ihrer Extremform 1986 durch Kurt Waldheim als Chauvinismus offenbart hat. Was mir auffällt ist, daß, was vor 1986 offen und klar als antisemitisch sich dargestellt hat, sich seither (wie auch nach 1945 schon sehr oft) philosemitisch äußert, ohne daß sich die Stereotype verändert hätten. Sie wurden einfach nur umgemünzt. Aber die Stereotype sind noch dieselben. Oder, man schaut sich z. B. ein Stück an im Burgtheater, Grillparzers Jüdin von Toledo - und es fehlt das Ende des Stückes. Wenn das Ende nämlich gespielt würde, wie es Grillparzer geschrieben hat, wäre alles von A bis Z ohnehin klar. Wenn man das Ende wegnimmt, kann man sich irgendwie zufrieden geben. Was man dabei aber nicht erkennt, weil das Ende eben gekappt worden ist, daß die gesamten Stereotype von Anfang an eigentlich eine Frechheit waren. Auch schon der Georg Wilhelm Pabst-Film „Der Prozeß‘ (1948; nach dem Roman von Karl Brunngraber „Prozeß auf Leben und Tod“ über den Ritualmordprozeß Hilsner, 1882) war eindeutig gegen den Antisemitismus gerichtet. Doch die Art und Weise, wie er dabei verfährt, widerspiegelt dieselben Stereotype. Man kann es auch sehen bei der allgemeinen großen Ergötzung am „Jüdischen Witz“. Man weiß nicht genau, sind diese jüdischen Witze, die immer wieder erzählt werden und auch immer wieder eingebaut werden, jüdische Witze? Oder sind es nicht vielmehr Judenwitze? Ich glaube, daß wir heute eine Wiederholung erleben, ein Wiederaufleben des Antisemitismus als Protest. Dieser Protest bejaht zugleich die existierenden Verhältnisse. Wenn wir uns den rassistischen Protest - denn es ist ein Protest, der im Kern rassistisch ist — in der Wahlbewegung der Freiheitlichen anschauen, im Oktober 1999, dann ist das natiirlich auch nichts anderes. Es handelt sich hier um eine Mentalitat, die dagegen ist, aber bloß so lange, als der Bestand dessen, wogegen sie ist, gesichert erscheint. Vladimir Vertlib: Nachdem unser Thema ja Antisemitismus und die österreichische Literatur nach 1945 ist, möchte ich ein Fallbeispiel bringen, das insofern lehrrreich ist, weil es sowohl nach der Waldheim-Affäre, die ja schon angesprochen wurde, 21