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Es ist keine Schande, nichts oder nur wenig über den Autor, dessen Buch heute vorgestellt wird, zu wissen. Er ist fast vergessen worden, woran nicht etwa sein Werk Schuld trägt, sondern die Ungunst der Zeiten, die langen Jahre der nationalsozialistischen Unrechtsherrschaft und des Schreckens des Zweiten Weltkrieges. Wenn Ihnen auch die Namen einiger seiner Freunde etwas sagen, wie: Kurt Tucholsky, Leo Perutz, Franz Blei, Anton Kuh und Roda Roda, so ist doch der Name Walther Rode heute nur mehr wenigen ein Begriff. In seiner Lebenszeit aber, besonders im letzten Jahrzehnt der österreichisch-ungarischen Monarchie und in der ersten Republik, hatte der Name Rode einen besonderen Klang, gerade hier in Wien. Viele kannten ihn als streitbaren Rechtsanwalt, der in aufsehenerregenden Prozessen Schlagzeilen machte, andere als geschätzten Autor. Seine polemisch-satirischen, angriffslustigen Zeitungsartikel, Broschüren und Bücher hatten eine große, begeisterte Leserschaft. Die Literaten und Journalisten kannten ihn als Stammgast in Zeitungsredaktionen und den damals bedeutendsten Wiener Literatencafés, dem Café Zentral und dem Café Herrenhof, die beide bequemerweise nur wenige Schritte von seiner Wohnung im 1. Bezirk in der Schreyvogelgasse 3 entfernt waren. Rodes Werk umfaßt mehrere hundert Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge und gut achtzehn Broschüren und Bücher, die manchmal nicht nur begeisterte Zustimmung, sondern auch heftige Ablehnung auslösten. Das Buch, von dem heute die Rede ist, sein „Lesebuch für Angeklagte‘, wurde im österreichischen Ständestaat im Jahr 1937 sogar als „staatsgefährdend“ verboten. 1. Zunächst einiges zu seiner Biographie: Walther Rode wurde am 9. April 1876 in Czernowitz, der Landeshauptstadt des österreichischen Kronlandes Bukowina geboren, und zwar als viertes Kind des Bankiers, Schriftstellers und Gemeinderates Leon Rode. Die vielköpfige Familie — Rode hatte sieben Geschwister — lebte in angenehmen, großbürgerlichen Verhältnissen. Man besaß ein eigenes Haus in der Herrengasse, der elegantesten Einkaufsstraße der Stadt, an der sich die großen Cafes Habsburg und de l’Europe befanden, in denen man 160 Tageszeitungen lesen konnte, und wo auch der mittägliche Korso zum Ringplatz hinauf stattfand. Czernowitz, damals mit etwa 80.000 Einwohnern fast eine Großstadt, war ein buntes Abbild der österreichisch-ungarischen Monarchie im Kleinen mit einem — heute würde man sagen „multikulturellen“ Gemisch von Sprachen, Nationalitäten und Religionen. Rumänen, Ruthenen — heute Ukrainer genannt —, Deutsche, Juden und Armenier waren die vorherrschenden Nationalitäten, es gab aber auch Huzulen, Lippowaner, Zigeuner und Slowaken. Etwa ein Drittel der Czernowitzer Bevölkerung waren Ju26 den. Hierzu gehörte auch Rodes in der Bukowina alteingesessene Familie, die ursprünglich den Namen Rosenzweig trug. Schon Rodes Vater hatte die Abkehr vom orthodoxen Judentum vollzogen. Obwohl er ursprünglich zum Rabbiner bestimmt war, vertrat er als deutschsprachiger Intellektueller ein striktes Programm der Assimilation, das er in einer aufsehenerregenden Broschüre mit dem Titel „Wir Juden“ vertrat. Er empfahl darin seinen jüdischen Mitbürgern den Austritt aus der jüdischen Glaubensgemeinschaft und das Eingehen von Mischehen. Im Jahr 1901 wurde er von der liberalen „Deutschen Fortschrittspartei“ in den Wiener Reichsrat, das Parlament der österreichischen Reichshälfte der Monarchie, gewählt. II. Walther Rode begann nach Absolvierung des Kaiser-FranzJoseph-Gymnasiums sein Studium der Rechtswissenschaften an der Czernowitzer Universität. Im Jahr 1897 übersiedelte er nach Wien. Er setzte sein Studium hier fort und wurde hier im Jahr 1900 zum Doktor der Rechtswissenschaften promoviert. Nach Ausbildungsjahren als „Konzipient“ in Wien und Salzburg begann er in Wien 1905 seine Tätigkeit als Verteidiger in Strafsachen, 1907 wurde er in die Liste der k.u.k. Hof- und Gerichtsadvokaten eingetragen. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren die Strafen, die österreichische Gerichte verhängten, von einer heute kaum mehr vorstellbaren Härte, ja von unmenschlicher Grausamkeit. Ein Beispiel möge genügen: Gerd Baumgartner, geboren 1943 in Wien, Rechtsanwalt seit 1973, recherchierte jahrelang zu Person und Werk Walther Rodes. Baumgartner sprach diese Einführung bei der Präsentation des von ihm herausgegebenen Walther Rode-Buches „Knöpfe und Vögel. Lesebuch für Angeklagte“ am 14. April 2000 in der Österreichische Gesellschaft für Literatur (in Zusammenarbeit mit der Theodor Kramer Gesellschaft). Aus dem Buch las Burgschauspieler Wolfgang Gasser.