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fast siebzig Jahren also. Das Buch hat nichts von seiner Aktualität, von seiner Daseinsberechtigung verloren. Rode hält nicht nur der Justiz seiner Zeit den Spiegel vor, sondern der menschlichen Justiz im allgemeinen und also auch der Justiz, wie sie auch heute ihres Amtes waltet. Rodes Bilder — oder sind es Zerrbilder? — der Richter, Sachverständigen, Schuldner, Angeklagten, Verteidiger, Beisitzer, Zeugen, der ganzen Truppe, welche die Tragikomödie der Justiz zu ihrer Aufführung bedarf, sind zeitlos wie die Justizbilder Honor& Daumiers; Niedertracht, Verschlagenheit, Amtsdünkel, Eitelkeit und Menschenverachtung liest der Betrachter aus ihnen heute genauso wie zur Zeit ihres Entstehens. Ihnen gemeinsam ist das Allgemeingültige der Darstellung, der scharfe Blick hinter die zeitgebundene Anwalts- oder Richterrobe. Anton Kuh, der dem Buch einen großen Essay in der Berliner Weltbühne widmete - er ist in der Neuauflage im Anhang abgedruckt -, wußte, daß es die „Staats-Braven, Rechts-Gehorsamen und Amtsuntertänigen“ ablehnen und als „eine Ausgeburt des Zynismus“ ansehen würden. Gegen den Vorwurf des Zynismus jedoch hat sich Rode schon im Vorwort des Buches verwahrt: Mich beschäftigen die Fragen: wer bekommt es mit den Gerichten zu tun? warum bekommt man mit den Gerichten zu tun? Wie muß man es anstellen, es nicht mit den Gerichten zu tun zu bekommen? Mit wem bekommt man es zu tun, wenn man mit den Gerichten zu tun bekommt? [...] Meine Skizzen sind kein Lehrbuch für den Verteidiger, sie sind Anleitungen für jedermann, der in der Greifweite der Behörden lebt. Niemand, der das Buch ganz gelesen hat, wird sagen dürfen, es sei zynisch. Die Kapitel des Buches sind aber weitaus mehr als bloße Anleitungen und etwas ganz anderes als etwa ein Knigge für Angeklagte nach Art der beliebten „Ratgeber“, am Abend vor der Verhandlung zu lesen, um mit Hilfe der Gerichtserfahrung Rodes der Strafe zu entgehen oder sie zumindest milder ausfallen zu lassen. Wohl kaum ein Leser des Buches hat es so angewendet und verstanden, denn ein Ratgeber in diesem Sinn ist Rodes Buch ebensowenig, wie Jonathan Swifts Satire „Bescheidener Vorschlag, wie man verhindern kann, daß die Kinder der Armen ihren Eltern oder dem Lande zur Last fallen“, in der er rat, sie zu schlachten und aufzuessen, ein Kochbuch ist. Viel eher ist das Buch eine „Naturgeschichte der Justiz“ oder ein „Handorakel der Lebensweisheit“ — auch diese Bezeichnungen hat Rode im Vorwort für sein Buch gebraucht — weshalb der von Anton Kuh angestellte Vergleich mit den Werken der französischen Moralisten Montaigne und La Bruyere nicht zu weit hergeholt ist. Rode hatte sie, die tiefe Einsicht der Moralisten in das Wesen der menschlichen Charaktere, dazu aber die jahrzehntelange Gerichtserfahrung des großen Verteidigers und die umfassende Kenntnis juristischer und historischer Literatur, wovon die zahlreichen Beispiele und Zitate des Buches zeugen. Anselm von Feuerbachs „Merkwürdige Verbrechen“, Pitavals zwanzigbändige „Causes cel&bres“, die Gerichtsreden des alten Rom, die Geschichte Spaniens während der Inquisition, Frankreichs im Zeitalter Richelieus, der großen Revolution und des zweiten Kaiserreiches, um nur einige zu nennen, dienen Rode ebenso als Belege wie die zahlreichen Gerichtsfälle, an denen er selbst beteiligt war. Er versteht es meisterhaft, die Unvollkommenheit, AnmaBung und Unmenschlichkeit, die irdischer Gerichtsbarkeit oft innewohnt, in äußerster Schärfe und doch mit hintergründigem, 30 schwarzen Humor darzustellen. Justitia steht nackt, nicht nur ihrer Augenbinde, sondern aller Machtattribute entblößt, vor uns. Die zeitgenössischen Rezensenten waren von der Qualität des Buches beeindruckt und hoben die Brillanz von Rodes Sprache hervor. Rudolf Olden, selbst Rechtsanwalt, meinte im Berliner Tageblatt der Stil des Buches sei am klassischen Rom gebildet, seine Sätze könnten auf dem Forum gesprochen sein. Axel Eggebrecht schrieb in der Literarischen Welt, das Buch stelle „umfassend und aufregend jede Einzelheit, jede Möglichkeit der menschlichen Beziehungen dar, soweit sie vor Gericht sichtbar werden‘. Man sollte es immer wieder lesen, „denn das ist eine gute Arznei gegen Alle Art Hochmut und Irrtum“. Aber nur zwei Jahre nach dem Erscheinen des Buches ergriffen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht. Das Buch landete auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennungen wie die Bücher anderer Autoren jüdischer Abstammung. Die Listen des „unerwünschten und schädlichen Schrifttums“ enthielten bald auch Rodes Werke. Und auch hier, in Österreich, fühlte sich das autoritär-faschistische Regime des Ständestaates bemüßigt, Rodes Buch als „staatsgefährdend“ zu verbieten. Es war einem Staatsanwalt in die Hände gefallen, der Rodes Ratschläge für politische Verbrecher für verdammenswert hielt: Im politischen Prozeß bist du von vornherein verurteilt. Verkaufe daher dein Leben so teuer als möglich. Immer ist die Möglichkeit da, daß du von deinen Partisanen mit Brachialgewalt aus den Klauen des Gerichtes gerissen wirst, wenn du deinen Kampf fortsetzt. — Sage deinen Richtern, daß sie Henker sind, bezahlte Lakaien des Diktators. Begründe dein Recht zum Aufruhr. Geißle den Wortbruch, die Morde, die VerworJenheit des herrschenden Regimes. Ein ungeheures Glücksgefühl wird deinen Kampf begleiten, auch wenn du unterliegst. — Je stärker die thronende Macht, desto größer sei dein Widerstand, desto stolzer deine Haltung. Am 12. März 1937 stellte der Staatsanwalt den Antrag auf Beschlagnahme, am selben Tag noch erließ das willfährige Gericht den Beschlagnahmebeschluß. Genau ein Jahr später, am 12. März 1938 rollten deutsche Panzer über Österreichs Grenzen. Hitler beschlagnahmte ganz Österreich, ohne Gegenwehr. Österreich hat Rodes Ratschlag nicht befolgt. Die österreichische Justiz scheint auch heute nicht sehr geneigt zu sein, einem Kritiker — und sei er auch schon 66 Jahre tot — zu vergeben und gnädig Verzeihung zu gewähren. Es bestand ursprünglich die — vielleicht vermessene — Absicht, Rodes Buch im Wiener Justizpalast, in einem der prunkvollen Verhandlungssäle des Obersten Gerichtshofes, der heutigen Leserschaft vorzustellen. Bei meiner ersten Vorsprache beim Präsidenten des Gerichtshofes, dem ich ein Exemplar des Buches überreichte, hatte es den Anschein, als wäre dies möglich, es wurden mir sogar geeignete Räumlichkeiten gezeigt. Eine Woche später aber, offenbar nach Durchsicht des Buches, erhielt ich eine Absage. Vor einem halben Jahr noch, hieß es, wäre es vielleicht möglich gewesen, doch jetzt ... Oder sollte dies ein Zeichen dafür sein, wie schnell die Justiz auf politische Veränderungen reagiert?