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Es war gerade ein Monat, nachdem wir unser Kind aufgrund unserer Tätigkeit aufs Land in Sicherheit gebracht hatten — wir lebten in Marseille und arbeiteten für den Widerstand. Der Kalender zeigte den Juni 1943, genau ein Jahr vor der alliierten Invasion an der normannischen Küste, dem Beginn der Zweiten Front. Das Erscheinen der Gestapo drohte — da traf ein Brief von Simone ein, der sehr aufregend und konfus war. Wir zwangen uns zum Ruhigbleiben und waren nach einer Weile auch nicht sonderlich besorgt, denn ich würde in Kürze Simone im Haus ihrer Freunde in dem Dorf sehen, das zur Unterbringung Pierres ausgewählt worden war. Er befand sich in Obhut einer Frau, von der man erwarten durfte, daß sie ihm die nötige Pflege und Zuwendung zuteil lassen würde. Auf alle Fälle war er dort sicher. Pierre war damals 23 Monate alt. Am Abend machte ich mich auf nach Toulouse, wo ich umsteigen mußte. Die Fahrt dauerte lang und ermüdete, verlief aber ereignislos. Nur einmal wurde meine Identitätskarte geprüft (ich galt als Französin), und am folgenden Morgen erreichte ich hungrig und sehr müde mein Ziel. Monsieur T. war Schullehrer und bereits pensioniert. Von unterdurchschnittlicher Größe und schlank, zeigte er eine durchfurchte Stirn und ein offenes freundliches Lächeln. Der Metallrahmen seiner Brille machte ihn zum Prototyp eines Lehrers. Seine Frau war etwas rundlich, aber immer noch nett aussehend. Sie entpuppte sich als eine ausgezeichnete Köchin - eine besondere Leistung in der Zeit der Nahrungsmittelknappheit. Sie hatten die drei kleinen Mädchen ihrer Tochter in Pflege, von zwei bis sieben Jahre alt. Monsieur T. war ein großer Bewunderer der Internationalen Brigaden, die im Bürgerkrieg auf Seiten des republikanischen Spaniens kämpften: Mein Mann und ich waren freiwillig Spanienkämpfer geworden, mein Mann als Brigadenmitglied und ich als Krankenschwester. Monsieur T. besaß einen ausgedehnten Garten, den er mit groBer Aufmerksamkeit bewässerte und jätete. Damit besserte er die Rationen auf, die dem französischen Volk während des Zweiten Weltkrieges zugemutet worden waren. Während der deutschen Besatzungszeit waren diese Rationen kläglich und ungenügend. Die meisten der in Frankreich erzeugten Nahrungsmittel wurden von der deutschen Heeresleitung beschlagnahmt. Nur Kindern und Kranken stand Frischmilch zu, täglich ein dreiviertel Liter für Pierre, die höchste Menge, die er bis zum Erreichen des dritten Lebensjahres bekommen sollte. Meine Wirte trugen sofort Frühstück auf. Es bestand aus Brot, selbstgemachter Marmelade, Ersatz-Kaffee (aber mit Milch). Mir wurde besser und ich fühlte mich optimistisch, wiewohl Simone noch nicht eingetroffen war. Mehrere Stunden vergingen. Nun wurde ich unruhig und ein dumpfes, nagendes Gefühl kroch mir in den Magen. Länger warten mochte ich nicht, denn ich wollte Pierre sehen. Nach dem Mittagsmahl machten wir, Monsieur T. und ich, uns auf den Weg zu Mme. F. Er stellte mich ihr als Pierres Tante vor. Pierre war ein pausbäckiger kleiner blonder Junge mit großen braunen Augen. Als er mich erblickte, begann er hörbar zu atmen und griff nach meiner Hand und in mein Kleid. Madame F. war klein, gesetzt, von gesundem Aussehen in den Vierzigern mit einer glatten Haut. Pierre sagte nichts. Er war fast zwei Jahre alt und sprach noch nicht. Darüber sorgten wir uns nicht, wir sahen es als einen wahrhaften Segen an. Als Baby war er drei Sprachen ausgesetzt worden — Französisch, Deutsch und Englisch. Damals lebten wir in den Hautes Pyrénées im unbesetzten Frankreich. Als die amerikanischen Truppen im November 1942 in Nordafrika landeten, besetzte die deutsche Wehrmacht sofort ganz Frankreich. Bis dahin war das Land in zwei Zonen geteilt - ins besetzte Frankreich einschließlich Paris unter deutscher Kontrolle, und in das unbesetzte Frankreich, das (angeblich) von General Petain in Vichy regiert wurde. Ich hörte auf, mit dem Kind englisch zu sprechen, und die anderen sprachen so wenig wie möglich deutsch. Fünf Österreicher lebten mit uns: vier Männer, die mit den Internationalen Brigaden in Spanien gekämpft hatten, und der achtjährige Georg. Er wurde von seinem Vater zu uns geschickt in der Hoffnung, in dem hochgelegenen Bergdorf in Sicherheit zu sein. Aber es kam anders. Er wurde deportiert und man hörte nie wieder etwas von ihm. Die Männer arbeiteten alle als Holzfäller. Später gewannen sie aus den gefällten Bäumen Holzkohle, die als Diesel-Ersatz verwendet wurde. Autos, die Holzkohle benutzten, konnte man leicht erkennen. Aus kleinen Schornsteinrohren stieg der Rauch hoch. Man nannte diesen Ersatz „gaz au gene“, er trug viel zur Umweltverpestung bei, jedoch immer noch weniger als Diesel. Ich erklärte Madame F., daß ich auf Simone warten wollte, deren Ankunft jede Minute bevorstand. Sie kannte Simone, da sie es war, die ihr Pierre zur Pflege anvertraut hatte und ihr seine Lebensmittelkarte und — wichtiger noch - seine Milch-Bezugs-Karte gegeben hatte. Zusätzlich erhielt sie eine monatliche Geldzuwendung. Wir warteten geduldig. Pierre kam immer wieder zu mir und griff nach meiner Hand. Mit der Zeit wurde Mme. F. gesprächiger und erzählte von ihren Sorgen. Es waren Schwierigkeiten mit der Assurance Sociale entstanden, der Sozialversicherung. Von ihr wurden Rechnungen für Kinderbehandlungen bezahlt. Ein Sozialarbeiter hatte sie aufgesucht, und sie hatte ihm Pierres Lebensmittelkarte gezeigt, die vom Bürgermeister von Lannemezin ausgestellt war, dem großen Dorf in der Hautes Pyrendes, nahe der spanischen Grenze, wo wir gelebt hatten. Sie besaß nämlich keine Geburtsurkunde Pierres (die seinen richtigen Namen preisgegeben hätte). Laut Lebensmittelkarte war er in Lannemezim geboren. Die Sozialversicherung schrieb an den dortigen Bürgermeister wegen weiterer Informationen. Die Antwort war negativ. Es gab keine Eintragung im Geburtsregister und so entzog man die in Pierres Namen ausgestellte Karte. Man hatte auch an Mlle. Simone geschrieben und war ohne Antwort geblieben. Dies alles erklärte nun Simones Brief an uns. Er begann mit den Worten „assurez-vous, mes amis“ („beruhigt Euch, meine Freunde“). Sie hatte nämlich angenommen, daß wir von den Sozialversicherungs-Problem bereits wüßten. Da Briefe oft zensuriert wurden, wagte sie nicht, offen zu schreiben. Wir konnten aus dieser Anspielung nicht klug werden und das Ergebnis war Verwirrung. Darauf tat ich etwas, dessen Verkehrtheit mir in31